| Grundsätzliche
                    Entscheidungen (1997) >
 
 die
                    kunst,
                    die liebe (1999) >
 
 programmnotiz
                    (2000) >
 
 
 Eva-Maria
                    Houben: Antoine Beuger, unwritten page –
 Unschärfe des Scharfen, Schärfe des Unscharfen
                    >
 
 Doris
                    Kösterke: Über den Komponisten Antoine Beuger (1999)
                    >
 
 Doris
                    Kösterke: Neunstündige Insel >
 
 
 
 
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 Antoine Beuger
 GRUNDSÄTZLICHE ENTSCHEIDUNGEN
 
 
 
 Es gibt die Frage nach der Materie ("Aus was setzt sich Musik
              zusammen") und die Frage nach der Form ("Wie macht sie das"). Die
              Materie der Musik ist das allgegenwärtige Rauschen der Welt,
              das heißt: alles, was klingt. Ihre Form ist der jeweilige
              Ausschnitt, den sie aus dieser unendlichen Mannigfaltigkeit
              herausschneidet. Kein Gesetz bestimmt, wie sie bei diesem Schnitt
              vorzugehen hat. Kein Ausschnitt ist grundlegend oder
              ursprünglich. Musik kann unendlich viele Formen annehmen, die
              weder aufeinander noch auf eine ideale Grundform
              zurückzuführen sind.
 
 Es ist möglich, sich die Welt als ein unendliches monotones
              Rauschen vorzustellen: eine Überfülle von
              Differenzen, in der nichts gleich ist, eine nie entwirrbare
              Komplexität, eine Gleichzeitigkeit ohne Zeit, da alles immer
              da ist und sich nichts verändert. Die Monotonie des
              Unendlichen. Alle Musik, die es jemals gegeben hat oder geben wird, ist
              in diesem Rauschen enthalten. So wie der Stein jede Skulptur
              enthält, die aus ihr herausgearbeitet werden kann.
 
 Musik wird aus der chaotischen, dennoch irgendwie "stummen" Materie
              herausgeschnitten, ihr gleichsam entzogen, oder vielleicht entrissen.
              Ihre jeweilige Eigenart wird ganz durch diesen Schnitt bestimmt. Der
              Schnitt kann ganz einfach sein oder überaus diffizil. Meistens
              wird er sich aus vielen Teilschnitten zusammensetzen. Es kann sehr
              grobe Schnitte geben oder extrem feine, präzise. Es kann
              weiche Schnitte geben oder harte, dünne oder dicke. Manche
              sind leicht nachzuvollziehen, andere schwer. Die Schnitte haben Namen:
              Barock, Klassik, Romantik; oder: Josquin, Händel, Haydn,
              Debussy; oder: später Beethoven, früher Boulez,
              später Nono.
 
 Ebensowenig wie sich das Kontinuum aus Punkten zusammensetzt, kann man
              sagen, daß sich das große Rauschen aus Beethoven,
              Nono, Cage, undsoweiter zusammensetzt. Sie sind lediglich enthalten.
              Und genauso wie der Schnitt in das Kontinuum den Punkt erst erzeugt,
              kommt das, was wir Beethoven, Cage oder La Monte Young nennen, erst
              durch den Schnitt zustande. Der Schnitt produziert etwas, das zwar
              immer schon enthalten war, das es aber so noch nicht gab.
 
 Der Schnitt holt eine Musik aus der zeitlosen Gleichzeitigkeit des
              Weltrauschens hervor und bringt sie damit zur Existenz.
              Plötzlich ist diese Musik da. Sie tritt aus der
              Anonymität des Enthaltenseins heraus und ist auf einmal selber
              etwas, steht für sich, bildet eine eigene Welt. Ihre "Geburt"
              in der Zeit ist genau zu lokalisieren.
 
 Oftmals kehrt sie auch wieder in das stumme Enthaltensein
              zurück, gerät in Vergessenheit, oder wird dem
              "Rauschen des Bekannten" zugefügt: Klassik-Radio,
              Hintergrundmusik, musikgeschichtliches Lexikon, Allgemeinbildung. Sie
              wird zum Element dessen, was es gibt.
 
 Das Rauschen des Bekannten: was es so gibt, was man so weiß,
              worüber man sich unterhält, worüber man eine
              Meinung hat. John Cage macht dies erfahrbar in Musicircus: so viel wie
              möglich unterschiedliche Musiker und Musikgruppen spielen im
              gleichen Raum gleichzeitig ihre Musik.
 
 Oder in 33 1/3: soviel wie möglich Plattenspieler auf die
              soviel wie möglich Schallplatten gleichzeitig aufgelegt
              werden. Oder im Rozart Mix: minimal 88 Bandschleifen werden
              gleichzeitig abgespielt. Ergebnis: ein Rauschen, in das die Musiken
              aufgehen, ein reines Klang-Werden, das heißt
              Rückkehr in die reine Mannigfaltigkeit der Klangdifferenzen.
 
 Neue Schnitte ereignen sich immer in einer bestimmten historischen
              Situation. Sie sind Ereignisse dieser Situation. In einer anderen
              Situation wären sie nicht möglich. Gleichzeitig aber
              sind sie der Situation fremd. Sie sind nicht in sie einzuordnen.
              "Schönberg" war ein Ereignis der spätromantischen
              Musik. Er war in ihr enthalten. Gleichzeitig aber war er in ihrem
              Rahmen nicht denkbar, eine solche Musik konnte nicht sein. Das Ereignis
              schlägt ein Loch in die vorhandene Ordnung und zieht eine
              grundsätzliche Umstrukturierung dieser Ordnung nach sich. Wer
              von dem Ereignis ergriffen wurde, wird sich für diese
              Umstrukturierung im Sinne des Ereignisses einsetzen.
 
 Schönberg ist mittlerweile normalisiert. In der Situation in
              der wir uns befinden, gibt es ihn, man kann sich über ihn
              unterhalten, eine Meinung über ihn haben: er gehört
              zur neuen Situation dazu.
 
 Die Materie der Musik ist immer gleich: das zeitlose Rauschen, das sich
              zusammensetzt aus allem, was klingt. Die Vielfalt ihrer
              möglichen Formen ist unendlich: alle Schnitte, die im Rauschen
              enthalten sind. Immer aber, wenn das Ereignis eines neuen Schnittes
              eintritt, gibt es nur eine Möglichkeit: "so und nicht anders".
              Der Schnitt in das Rauschen, der im Sinne der Natur vollkommen
              arbiträr ist (jeder Schnitt ist gleichermaßen
              wahrscheinlich), erhebt als geschichtliches Ereignis einen
              Wahrheitsanspruch (den Anspruch, eine, nicht die Wahrheit zu sein) und
              forciert ein neues Wahrnehmen, ein neues Empfinden, ein neues Denken.
 
 Nachdem Cage sein stilles Stück 4'33'' komponiert hatte, hat
              sich sein Leben - und nicht nur sein Leben - geändert. Es
              wurde ein Leben im Sinne von 4'33''. Ein Leben um den Wahrheitsanspruch
              zu erfüllen, der sich seiner durch das 4'33''-Ereignis
              bemächtigt hatte.
 
 Einem Ereignis treu sein heißt: den neuen Wahrnehmungen und
              Empfindungen, die durch dieses Ereignis geschaffen wurden, nachgehen,
              sie fördern, sie weiterentwickeln: alles herausfinden und
              herausbringen, was in ihnen enthalten ist. 4'33'' treu sein
              heißt: es immer wieder hören; wahrnehmen, was beim
              Hören passiert; Absichtslosigkeit üben; immer wieder
              Möglichkeiten finden, wie sich Musik als reines Erklingen
              ereignen kann.
 
 Die reine Differenzialität dessen, was es gibt. Man braucht
              sich um die Differenzen nicht kümmern. Sie brauchen uns nicht
              um auf ihre Kosten zu kommen. Sie sind nicht darauf angewiesen von uns
              anerkannt zu werden. Sie sind da. Sie sind das, was es gibt. Jeder
              Klang ist anders. Es gibt keine Wiederholung. Der Schnitt in das
              Rauschen definiert sich in 4'33" als bloße Zeitangabe, als
              Dauer.
 
 Als Schnitt. In diesem Stück wird Musik zum ersten Mal in
              ihrer Beschaffenheit als Schnitt erfahrbar. Sie präsentiert
              sich direkt als Ausschnitt aus dem unendlichen Rauschen,
              nämlich der Ausschnitt, in dem wir uns während der
              Aufführung des Stückes gerade befinden.
 
 Die Musik bekommt den Charakter einer Präsentation, wird einer
              Versuchsanordnung vergleichbar. Komponieren heißt nicht mehr:
              Differenzen und Differenzverkettungen erfinden, sondern Ausschnitte
              schaffen. Möglichst einfache, durchschaubare Rahmenbedingungen
              unter denen sich die Musik, wie von selbst, ereignen kann. Anders
              gesagt: unter denen sich der Klang in seiner ganzen
              natürlichen Differenzialität für die
              Wahrnehmung entfaltet.
 
 Das kann auch ein einzelner Klang sein. Jeden Klang, den wir
              hören, haben wir so noch nie gehört und werden wir
              nie wieder so hören. Daß es keine Wiederholung gibt,
              zeigt gerade die Wiederholung eines Klanges. In der Wiederholung ist
              der Klang ein anderer.
 
 In der Musik, die sich als Musik nach dem Ereignis 4'33'' versteht, ist
              nicht der Klang, sondern der Schnitt selbst der Gegenstand der
              kompositorischen Tätigkeit. Komponiert wird das Verfahren, mit
              welchem aus der unendlichen Mannigfaltigkeit aller Klänge ein
              neuer Ausschnitt, eine neue Wahrnehmungsmöglichkeit gewonnen
              wird. Komponieren ist das Entwerfen eines Schnittverfahrens. Der
              Komponist entschneidet, wie geschnitten wird, die Musik ergibt sich aus
              diesem Verfahren.
 
 Stellen wir uns ein Stück für Orgel vor. Der Organist
              spielt anfänglich einen gehaltenen Ton, beliebig welchen. Nach
              frühestens 10 und spätestens 40 Minuten beendet er
              den Ton. Nach frühestens 60 und spätestens 90 Minuten
              beendet er das Stück.
 
 Aus der Gesamttätigkeit des Organisten wird in dieser
              Komposition einen winzigen Ausschnitt ent-schieden: das
              Niederdrücken und Loslassen einer Taste. Diese
              Tätigkeit bringt einen ebenso winzigen Ausschnitt aus allen
              Klängen, die eine Orgel zu erzeugen vermag, hervor: einen Ton.
              Wie der Ton anfängt; wie er klingt; wann und wie er
              aufhört; wie die Stille nach dem Aufhören klingt;
              wann und wie das Stück endet: dies alles ist konstitutiv
              für das Erlebnis des Stückes. Trotzdem ist es kein
              Gegenstand der Komposition, sondern ereignet sich erst in der
              Aufführung. Die Komposition besteht aus einigen
              grundsätzlichen Entscheidungen bezüglich der
              Bedingungen des zu entstehenden Ausschnitts. Das, was nachher den
              Zuhörer ergreift, nämlich die Begegnung mit dem, was
              sich in der Aufführung real ereignet, ist Folge der
              kompositorischen Entscheidungen, entzieht sich aber dem direkten
              kompositorischen Zugriff.
 
 Ein solches Komponieren, das sich dem Ereignis, das heißt:
              der Begegnung mit dem Realen, öffnet, ist ohne John Cage
              undenkbar. Es ist immer der Versuch einer Antwort auf die Frage: "Wie
              geht es nach 4'33'' weiter?", oder anders formuliert: "Was ist in
              4'33'' noch an Unbekanntem enthalten".
 
 
 Antoine Beuger, 1997
 
 
 
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 Antoine
              Beuger
 DIE KUNST, DIE LIEBE
 
 
 
 und was ist mit der kunst?
 
 
 was hat sie mit der liebe zu tun?
 
 
 ist nicht die liebeserklärung die eröffnung eines
              doppelraums?
 
 
 ist die liebe etwas anderes als der einbruch der zwei in die
              kontinuität der eins?
 
 
 was ist die liebesbegegnung, wenn nicht die emporhebung zweier
              menschen, zweier ahnungslos in ihrer existenz verweilenden und um deren
              ungestörten fortsetzung sich mühenden lebewesen, in
              das ihre angelernten fähigkeiten rücksichtslos
              überschreitende spiel der spaltung?
 
 
 mitnichten macht die liebe aus zwei eins. sie macht aus dem einen, der
              ich bin, zwei, indem sie mich auf immer von meiner geliebten trennt.
 
 
 im liebesschwur "ich liebe dich" wird die trennung ausgesagt: wir sind
              zwei; ich weiß nicht, wer du bist; ich werde nie etwas
              über dich wissen, aber ich befinde mich mit dir, ohne dich,
              inmitten der unendlichen vielfalt der dinge und die spaltung, die sich
              zwischen uns aufgetan hat, läßt mich alles neu
              sehen, gibt mir alles neu zu überdenken, schickt mich auf eine
              entdeckungsreise dorthin, wo ich immer schon war, wo ich eingebunden
              war, bis die liebe zwischen uns mich entbunden und hinausgeschickt hat.
 
 
 kunst entsteht, wenn der instinkt, diese (so mallarmé)
              keusche, unberührte quelle, eines jeden begehrens frei,
              ungeteilt und ohne zerstreuung, sich bemerkbar macht in der
              empfindsamkeit eines wieder ursprünglich gewordenen wesens
              nicht für das, was es gibt, sondern für das, was es,
              dem mannigfaltigen enthoben, zu ahnen in der lage ist: die leere.
 
 
 obwohl ganz und gar im sinnlichen sich bewegend, sich dem sehen, dem
              hören, dem fühlen zuwendend, legt die kunst ein
              anderes hören, sehen und fühlen nahe, ein
              fühlen, sehen und hören, das nicht die
              alltagswahrnehmung wiederholt, sondern diese auflöst, neue
              räume schaffend, leere schaffend in der (so der talmud) die
              schöpfung stattfinden kann
 
 
 während die liebe aus eins zwei macht und die liebenden in die
              unendliche vielfalt der dinge hinausschickt um diese neu
              kennenzulernen, so hebt vielleicht die kunst, zunächst, aus
              der unendlichen kontinuität der sinnlichen empfindungen eine
              einzelne hervor, entzieht sie der kontinuität und
              läßt somit die leere ahnen die unter, das
              heißt: zwischen den dingen weilt.
 
 
 um uns ist die welt, die mannigfaltigkeit, die end- und anfangslose, in
              der wir aufgehoben sind, bis die liebe, oder die kunst, uns entbindet
              und unsere zeit anfängt.
 
 
 liebe und kunst sind komplizen. sie reißen uns heraus und
              treiben uns hinein. gnadenlos zuschlagend sind sie uns eine gnade, mit
              der etwas anzufangen nur unser instinkt, diese unbegierige, klare,
              reine kraft, in der lage ist.
 
 
 
 
 antoine beuger, 1999
 
 
 
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 Antoine
              Beuger
 PROGRAMMNOTIZ
 
 
 
 mich interessiert eine musik, in der das erscheinen der klänge
              mit ihrem verschwinden zusammenfällt. die unentscheidbarkeit,
              ob ein klang gerade am verschwinden oder am auftauchen ist, die
              unentscheidbarkeit zwischen noch nicht
 da und schon nicht mehr.
 
 
 im erscheinen verschwindend, im verschwinden erscheinend: die
              paradoxale natur des ereignisses, das nie gegenwärtig ist.
 
 
 ist eine musik des ereignisses möglich, d.h. eine musik deren
              zeit sich der gegenwärtigkeit entzieht? eine musik, deren
              qualität nicht in ihrem stattfinden liegt, sondern in der
              unentscheidbarkeit, ob sie stattgefunden hat oder nicht?
 
 
 
 antoine beuger, 2000
 
 
 
 
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