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Antoine Beuger
GRUNDSÄTZLICHE ENTSCHEIDUNGEN
Es gibt die Frage nach der Materie ("Aus was setzt sich Musik
zusammen") und die Frage nach der Form ("Wie macht sie das"). Die
Materie der Musik ist das allgegenwärtige Rauschen der Welt,
das heißt: alles, was klingt. Ihre Form ist der jeweilige
Ausschnitt, den sie aus dieser unendlichen Mannigfaltigkeit
herausschneidet. Kein Gesetz bestimmt, wie sie bei diesem Schnitt
vorzugehen hat. Kein Ausschnitt ist grundlegend oder
ursprünglich. Musik kann unendlich viele Formen annehmen, die
weder aufeinander noch auf eine ideale Grundform
zurückzuführen sind.
Es ist möglich, sich die Welt als ein unendliches monotones
Rauschen vorzustellen: eine Überfülle von
Differenzen, in der nichts gleich ist, eine nie entwirrbare
Komplexität, eine Gleichzeitigkeit ohne Zeit, da alles immer
da ist und sich nichts verändert. Die Monotonie des
Unendlichen. Alle Musik, die es jemals gegeben hat oder geben wird, ist
in diesem Rauschen enthalten. So wie der Stein jede Skulptur
enthält, die aus ihr herausgearbeitet werden kann.
Musik wird aus der chaotischen, dennoch irgendwie "stummen" Materie
herausgeschnitten, ihr gleichsam entzogen, oder vielleicht entrissen.
Ihre jeweilige Eigenart wird ganz durch diesen Schnitt bestimmt. Der
Schnitt kann ganz einfach sein oder überaus diffizil. Meistens
wird er sich aus vielen Teilschnitten zusammensetzen. Es kann sehr
grobe Schnitte geben oder extrem feine, präzise. Es kann
weiche Schnitte geben oder harte, dünne oder dicke. Manche
sind leicht nachzuvollziehen, andere schwer. Die Schnitte haben Namen:
Barock, Klassik, Romantik; oder: Josquin, Händel, Haydn,
Debussy; oder: später Beethoven, früher Boulez,
später Nono.
Ebensowenig wie sich das Kontinuum aus Punkten zusammensetzt, kann man
sagen, daß sich das große Rauschen aus Beethoven,
Nono, Cage, undsoweiter zusammensetzt. Sie sind lediglich enthalten.
Und genauso wie der Schnitt in das Kontinuum den Punkt erst erzeugt,
kommt das, was wir Beethoven, Cage oder La Monte Young nennen, erst
durch den Schnitt zustande. Der Schnitt produziert etwas, das zwar
immer schon enthalten war, das es aber so noch nicht gab.
Der Schnitt holt eine Musik aus der zeitlosen Gleichzeitigkeit des
Weltrauschens hervor und bringt sie damit zur Existenz.
Plötzlich ist diese Musik da. Sie tritt aus der
Anonymität des Enthaltenseins heraus und ist auf einmal selber
etwas, steht für sich, bildet eine eigene Welt. Ihre "Geburt"
in der Zeit ist genau zu lokalisieren.
Oftmals kehrt sie auch wieder in das stumme Enthaltensein
zurück, gerät in Vergessenheit, oder wird dem
"Rauschen des Bekannten" zugefügt: Klassik-Radio,
Hintergrundmusik, musikgeschichtliches Lexikon, Allgemeinbildung. Sie
wird zum Element dessen, was es gibt.
Das Rauschen des Bekannten: was es so gibt, was man so weiß,
worüber man sich unterhält, worüber man eine
Meinung hat. John Cage macht dies erfahrbar in Musicircus: so viel wie
möglich unterschiedliche Musiker und Musikgruppen spielen im
gleichen Raum gleichzeitig ihre Musik.
Oder in 33 1/3: soviel wie möglich Plattenspieler auf die
soviel wie möglich Schallplatten gleichzeitig aufgelegt
werden. Oder im Rozart Mix: minimal 88 Bandschleifen werden
gleichzeitig abgespielt. Ergebnis: ein Rauschen, in das die Musiken
aufgehen, ein reines Klang-Werden, das heißt
Rückkehr in die reine Mannigfaltigkeit der Klangdifferenzen.
Neue Schnitte ereignen sich immer in einer bestimmten historischen
Situation. Sie sind Ereignisse dieser Situation. In einer anderen
Situation wären sie nicht möglich. Gleichzeitig aber
sind sie der Situation fremd. Sie sind nicht in sie einzuordnen.
"Schönberg" war ein Ereignis der spätromantischen
Musik. Er war in ihr enthalten. Gleichzeitig aber war er in ihrem
Rahmen nicht denkbar, eine solche Musik konnte nicht sein. Das Ereignis
schlägt ein Loch in die vorhandene Ordnung und zieht eine
grundsätzliche Umstrukturierung dieser Ordnung nach sich. Wer
von dem Ereignis ergriffen wurde, wird sich für diese
Umstrukturierung im Sinne des Ereignisses einsetzen.
Schönberg ist mittlerweile normalisiert. In der Situation in
der wir uns befinden, gibt es ihn, man kann sich über ihn
unterhalten, eine Meinung über ihn haben: er gehört
zur neuen Situation dazu.
Die Materie der Musik ist immer gleich: das zeitlose Rauschen, das sich
zusammensetzt aus allem, was klingt. Die Vielfalt ihrer
möglichen Formen ist unendlich: alle Schnitte, die im Rauschen
enthalten sind. Immer aber, wenn das Ereignis eines neuen Schnittes
eintritt, gibt es nur eine Möglichkeit: "so und nicht anders".
Der Schnitt in das Rauschen, der im Sinne der Natur vollkommen
arbiträr ist (jeder Schnitt ist gleichermaßen
wahrscheinlich), erhebt als geschichtliches Ereignis einen
Wahrheitsanspruch (den Anspruch, eine, nicht die Wahrheit zu sein) und
forciert ein neues Wahrnehmen, ein neues Empfinden, ein neues Denken.
Nachdem Cage sein stilles Stück 4'33'' komponiert hatte, hat
sich sein Leben - und nicht nur sein Leben - geändert. Es
wurde ein Leben im Sinne von 4'33''. Ein Leben um den Wahrheitsanspruch
zu erfüllen, der sich seiner durch das 4'33''-Ereignis
bemächtigt hatte.
Einem Ereignis treu sein heißt: den neuen Wahrnehmungen und
Empfindungen, die durch dieses Ereignis geschaffen wurden, nachgehen,
sie fördern, sie weiterentwickeln: alles herausfinden und
herausbringen, was in ihnen enthalten ist. 4'33'' treu sein
heißt: es immer wieder hören; wahrnehmen, was beim
Hören passiert; Absichtslosigkeit üben; immer wieder
Möglichkeiten finden, wie sich Musik als reines Erklingen
ereignen kann.
Die reine Differenzialität dessen, was es gibt. Man braucht
sich um die Differenzen nicht kümmern. Sie brauchen uns nicht
um auf ihre Kosten zu kommen. Sie sind nicht darauf angewiesen von uns
anerkannt zu werden. Sie sind da. Sie sind das, was es gibt. Jeder
Klang ist anders. Es gibt keine Wiederholung. Der Schnitt in das
Rauschen definiert sich in 4'33" als bloße Zeitangabe, als
Dauer.
Als Schnitt. In diesem Stück wird Musik zum ersten Mal in
ihrer Beschaffenheit als Schnitt erfahrbar. Sie präsentiert
sich direkt als Ausschnitt aus dem unendlichen Rauschen,
nämlich der Ausschnitt, in dem wir uns während der
Aufführung des Stückes gerade befinden.
Die Musik bekommt den Charakter einer Präsentation, wird einer
Versuchsanordnung vergleichbar. Komponieren heißt nicht mehr:
Differenzen und Differenzverkettungen erfinden, sondern Ausschnitte
schaffen. Möglichst einfache, durchschaubare Rahmenbedingungen
unter denen sich die Musik, wie von selbst, ereignen kann. Anders
gesagt: unter denen sich der Klang in seiner ganzen
natürlichen Differenzialität für die
Wahrnehmung entfaltet.
Das kann auch ein einzelner Klang sein. Jeden Klang, den wir
hören, haben wir so noch nie gehört und werden wir
nie wieder so hören. Daß es keine Wiederholung gibt,
zeigt gerade die Wiederholung eines Klanges. In der Wiederholung ist
der Klang ein anderer.
In der Musik, die sich als Musik nach dem Ereignis 4'33'' versteht, ist
nicht der Klang, sondern der Schnitt selbst der Gegenstand der
kompositorischen Tätigkeit. Komponiert wird das Verfahren, mit
welchem aus der unendlichen Mannigfaltigkeit aller Klänge ein
neuer Ausschnitt, eine neue Wahrnehmungsmöglichkeit gewonnen
wird. Komponieren ist das Entwerfen eines Schnittverfahrens. Der
Komponist entschneidet, wie geschnitten wird, die Musik ergibt sich aus
diesem Verfahren.
Stellen wir uns ein Stück für Orgel vor. Der Organist
spielt anfänglich einen gehaltenen Ton, beliebig welchen. Nach
frühestens 10 und spätestens 40 Minuten beendet er
den Ton. Nach frühestens 60 und spätestens 90 Minuten
beendet er das Stück.
Aus der Gesamttätigkeit des Organisten wird in dieser
Komposition einen winzigen Ausschnitt ent-schieden: das
Niederdrücken und Loslassen einer Taste. Diese
Tätigkeit bringt einen ebenso winzigen Ausschnitt aus allen
Klängen, die eine Orgel zu erzeugen vermag, hervor: einen Ton.
Wie der Ton anfängt; wie er klingt; wann und wie er
aufhört; wie die Stille nach dem Aufhören klingt;
wann und wie das Stück endet: dies alles ist konstitutiv
für das Erlebnis des Stückes. Trotzdem ist es kein
Gegenstand der Komposition, sondern ereignet sich erst in der
Aufführung. Die Komposition besteht aus einigen
grundsätzlichen Entscheidungen bezüglich der
Bedingungen des zu entstehenden Ausschnitts. Das, was nachher den
Zuhörer ergreift, nämlich die Begegnung mit dem, was
sich in der Aufführung real ereignet, ist Folge der
kompositorischen Entscheidungen, entzieht sich aber dem direkten
kompositorischen Zugriff.
Ein solches Komponieren, das sich dem Ereignis, das heißt:
der Begegnung mit dem Realen, öffnet, ist ohne John Cage
undenkbar. Es ist immer der Versuch einer Antwort auf die Frage: "Wie
geht es nach 4'33'' weiter?", oder anders formuliert: "Was ist in
4'33'' noch an Unbekanntem enthalten".
Antoine Beuger, 1997
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Antoine
Beuger
DIE KUNST, DIE LIEBE
und was ist mit der kunst?
was hat sie mit der liebe zu tun?
ist nicht die liebeserklärung die eröffnung eines
doppelraums?
ist die liebe etwas anderes als der einbruch der zwei in die
kontinuität der eins?
was ist die liebesbegegnung, wenn nicht die emporhebung zweier
menschen, zweier ahnungslos in ihrer existenz verweilenden und um deren
ungestörten fortsetzung sich mühenden lebewesen, in
das ihre angelernten fähigkeiten rücksichtslos
überschreitende spiel der spaltung?
mitnichten macht die liebe aus zwei eins. sie macht aus dem einen, der
ich bin, zwei, indem sie mich auf immer von meiner geliebten trennt.
im liebesschwur "ich liebe dich" wird die trennung ausgesagt: wir sind
zwei; ich weiß nicht, wer du bist; ich werde nie etwas
über dich wissen, aber ich befinde mich mit dir, ohne dich,
inmitten der unendlichen vielfalt der dinge und die spaltung, die sich
zwischen uns aufgetan hat, läßt mich alles neu
sehen, gibt mir alles neu zu überdenken, schickt mich auf eine
entdeckungsreise dorthin, wo ich immer schon war, wo ich eingebunden
war, bis die liebe zwischen uns mich entbunden und hinausgeschickt hat.
kunst entsteht, wenn der instinkt, diese (so mallarmé)
keusche, unberührte quelle, eines jeden begehrens frei,
ungeteilt und ohne zerstreuung, sich bemerkbar macht in der
empfindsamkeit eines wieder ursprünglich gewordenen wesens
nicht für das, was es gibt, sondern für das, was es,
dem mannigfaltigen enthoben, zu ahnen in der lage ist: die leere.
obwohl ganz und gar im sinnlichen sich bewegend, sich dem sehen, dem
hören, dem fühlen zuwendend, legt die kunst ein
anderes hören, sehen und fühlen nahe, ein
fühlen, sehen und hören, das nicht die
alltagswahrnehmung wiederholt, sondern diese auflöst, neue
räume schaffend, leere schaffend in der (so der talmud) die
schöpfung stattfinden kann
während die liebe aus eins zwei macht und die liebenden in die
unendliche vielfalt der dinge hinausschickt um diese neu
kennenzulernen, so hebt vielleicht die kunst, zunächst, aus
der unendlichen kontinuität der sinnlichen empfindungen eine
einzelne hervor, entzieht sie der kontinuität und
läßt somit die leere ahnen die unter, das
heißt: zwischen den dingen weilt.
um uns ist die welt, die mannigfaltigkeit, die end- und anfangslose, in
der wir aufgehoben sind, bis die liebe, oder die kunst, uns entbindet
und unsere zeit anfängt.
liebe und kunst sind komplizen. sie reißen uns heraus und
treiben uns hinein. gnadenlos zuschlagend sind sie uns eine gnade, mit
der etwas anzufangen nur unser instinkt, diese unbegierige, klare,
reine kraft, in der lage ist.
antoine beuger, 1999
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Antoine
Beuger
PROGRAMMNOTIZ
mich interessiert eine musik, in der das erscheinen der klänge
mit ihrem verschwinden zusammenfällt. die unentscheidbarkeit,
ob ein klang gerade am verschwinden oder am auftauchen ist, die
unentscheidbarkeit zwischen noch nicht
da und schon nicht mehr.
im erscheinen verschwindend, im verschwinden erscheinend: die
paradoxale natur des ereignisses, das nie gegenwärtig ist.
ist eine musik des ereignisses möglich, d.h. eine musik deren
zeit sich der gegenwärtigkeit entzieht? eine musik, deren
qualität nicht in ihrem stattfinden liegt, sondern in der
unentscheidbarkeit, ob sie stattgefunden hat oder nicht?
antoine beuger, 2000
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