| Grundsätzliche
                      Entscheidungen (1997) >
 
 die
                      kunst,
                      die liebe (1999) >
 
 programmnotiz
                      (2000) >
 
 
 Eva-Maria
                      Houben: Antoine Beuger, unwritten page –
 Unschärfe des Scharfen, Schärfe des Unscharfen
                      >
 
 Doris
                      Kösterke: Über den Komponisten Antoine Beuger (1999)
                      >
 
 Doris
                      Kösterke: Neunstündige Insel >
 
 
 
 
 
 _____________________________________________________________________
 Aus:
                Eva-Maria Houben, Alte Musik mit neuen Ohren. Schubert –
                Bruckner – Wagner - ..., Saarbrücken, 2000
 
 Antoine
                  Beuger, unwritten page –
 Unschärfe des Scharfen, Schärfe des Unscharfen
 
 
 
 (...)
 
 Kompositionen
                von Antoine Beuger machen immer wieder auf das Aufhören des
                Klanges
                aufmerksam. Klang schwingt ein, damit er aufhören kann. Die
                Unschärfe
                der Übergänge von Stille zu Klang, von Klang zu
                Stille, von Klang zu
                Klang, von Stille zu Stille und die Unschärfe von Beginn und
                Schluß
                werden ins Zentrum der Wahrnehmung gerückt. Dabei wird die
                Musik aufs
                äußerste reduziert. Innerhalb einer großen
                Zeitspanne erklingen oft nur
                wenige Töne.
 
 ins
                  ungebundene für Orgel (1997) beginnt mit einem
                leisen Ton beliebiger Tonhöhe. "beginn des tons ist beginn des
                stückes."(1) So wird der Beginn
                selbst nicht wahrgenommen. Erst wenn
                das Stück bereits begonnen hat, wird der Einschnitt des
                Beginns als
                solcher bewußt. Der bei jedem Orgelkonzert
                selbstverständliche Zwang
                zur Entscheidung, jetzt gleich zu beginnen, wird hier wie mit
                Scheinwerfern beleuchtet; es entsteht eine Grauzone zwischen jetzt
                gleich und gerade eben. Der nächste Einschnitt erfolgt nach
                zehn
                Minuten, weil ab jetzt die Sicherheit der Anwesenheit des Tones
                verlorengeht; zehn Minuten nach Beginn kann der Ton jederzeit
                aufhören:
                "frühestens nach 10, spätestens nach 40 minuten,
                endet der ton." Die
                nächste Zäsur wird gesetzt, wenn der Ton
                tatsächlich aufhört,
                spätestens nach 40 Minuten. Das Aufhören des Tons ist
                ein Schnitt: Ab
                jetzt ereignet sich nichts Bestimmtes mehr bis zum Schluß des
                Stückes
                "frühestens nach 60, spätestens nach 90 minuten". Der
                Schluß ist der
                letzte Einschnitt. In dieser Musik ist der Ton fast nur da, damit er
                nach seinem Aufhören abwesend sein kann. Während
                seiner Anwesenheit
                verändert sich der Ton mit der Wahrnehmung des
                Hörers: Der Ton wird -
                je nach Registrierung - als mehr oder weniger geräuschhaft
                empfunden;
                unterschiedliche Teiltöne sind im Laufe der Zeit
                herauszuhören; der Ton
                verändert seine Farbe bei Kopf- und Körperbewegungen
                des Hörers.
                Während der Abwesenheit des Tons verändert sich die
                Stille. ins
                  ungebundene für Flöte (1998) verunklart
                die Schnittstelle zwischen den
                Phasen der An- und Abwesenheit des Tons, weil der von der
                Flöte
                gespielte Ton, der "eher tief. eher kurz. sehr leise" ist,
                während
                seiner Anwesenheit "ganz ab und zu" klingt: So bleibt nach seinem
                letzten kurzen Erklingen längere Zeit unklar, ob es wirklich
                das letzte
                Erklingen war oder ob der Ton noch einmal (und noch einmal etc.)
                auftreten wird.(2) Die
                plötzliche Abwesenheit des Tons im Orgelstück
                wird als blitzartiger Schnitt erlebt. Die Unschärfe dieses
                scharfen
                Schnitts entsteht durch seine Blitzhaftigkeit. Er ist immer schon
                längst vorbei, sobald man seiner gewahr wird:
                Unschärfe des Scharfen.
                Im Hinblick auf das Flötenstück hingegen
                könnte zunächst der
                oberflächliche Eindruck entstehen, daß der Ton, der
                eben nicht
                kontinuierlich, sondern "ganz ab und zu" klingt, sich
                allmählich
                verabschiedet; dieser Eindruck täuscht. Die Stille zwischen
                den Tönen
                ist eine andere Stille als die Stille nach dem letzten Ton. Der Ton ist
                ebenso plötzlich nicht mehr da wie der kontinuierlich
                angehaltene
                Orgelton: Schärfe des Unscharfen. Vom Paradox des unscharfen,
                unklaren
                Schnitts und - auf der anderen Seite - des scharfen, klaren
                Übergangs
                her sind Entscheidungen zu treffen und vom Hörer
                nachzuvollziehen. Das
                Ende des Orgelstücks ist insofern problematisch, als der
                Ausführende,
                je nach den räumlichen Verhältnissen, häufig
                unsichtbar bleibt. Was
                heißt da: "frühestens nach 60, spätestens
                nach 90 minuten, endet das
                stück .."? Das Ende des Stückes für
                Flöte ist klar: "nach frühestens
                60, spätestens 90 minuten, endet das stück." Es endet
                mit einem Abgang,
                einem Abbruch, einem Abbau, in jedem Fall mit einem
                Schlußstrich, der
                die unscharfe Trennschärfe vor Augen und Ohren führt.
                Der Ausführende
                des Orgelstücks muß sich etwas einfallen lassen, um
                ein deutliches Ende
                zu markieren: So kann er beispielsweise ein anderes Stück
                spielen oder
                seinen Abgang inszenieren. Es ist Aufgabe des Interpreten, das Ende
                klar zu machen, damit die Unklarheit des Klaren ans Licht kommt, damit
                die Unschärfe des Schnittpunktes bewußt werden kann.
                Ein drittes Stück, ins
                  ungebundene für Sprechstimme (1999),
                ähnelt der Version für Flöte:
                Der menschliche Atem kann nicht wie der Orgelatem mindestens zehn
                Minuten lang ausströmen und erst dann aufhören zu
                fließen. Wie im
                Flötenstück der Ton "ganz ab und zu" erklingt, so
                erklingt diesmal
                "ganz ab und zu" das Wort "und".(3) Die Stille nach dem
                letzten
                Erklingen des Wortes läßt wie die Stille nach dem
                letzten Erklingen des
                Tons im Flötenstück den Hörer im Ungewissen,
                ob dies das letzte
                Erklingen war oder nicht, ob das Wort noch anwesend oder schon abwesend
                ist. Der Schnitt ist wie im Flötenstück unscharf in
                der Wahrnehmung der
                Hörer und zugleich scharf bezüglich seiner
                Endgültigkeit und
                Unwiderruflichkeit. Die Konjunktion "und" führt immer weiter.
                Mit jedem
                Erklingen und Verklingen, auch mit dem letzten Erklingen und
                Verklingen, schafft das Wort die Verbindung zum Danach. Mit dem
                Orgelstück ins
                  ungebundene teilt das Stück für
                Sprechstimme das Motto,
                ein Wort aus Friedrich Hölderlins Gedicht Mnemosyne: "Und
                immer / Ins
                Ungebundene gehet eine Sehnsucht."(4)
 
 (...)
 
 In den
                neueren Stücken für zwei Ausführende von
                Antoine Beuger spielt jeder
                der beiden in einem eigenen, begrenzten Zeitraum, ohne daß es
                zu
                Überschneidungen der Zeiträume kommt. ein ton. eher kurz. sehr leise
                für zwei Ausführende (1998) zieht sehr
                präzise Grenzmarken im
                30-Sekunden-Takt: Einer spielt den eher kurzen, sehr leisen Ton "einmal
                in der ersten hälfte jeder minute", einer "einmal in der
                zweiten hälfte
                jeder minute". "irgendwann" spielt einer der beiden den Ton nicht mehr,
                und dann auch nicht mehr bis zum Ende, "irgendwann" spielt auch der
                andere den Ton nicht mehr, ebenfalls dann nicht mehr bis zum Ende des
                Stückes.(5) Das Aufhören
                ist also für die beiden Ausführenden
                endgültig. Das Stück soll "mindestens 30 minuten"
                dauern. Wenn nach 30
                Minuten keiner der beiden aufgehört hat, geht es weiter; haben
                beide
                bereits sehr frühzeitig aufgehört (vielleicht schon
                in der ersten
                Viertelstunde), kann das Stück über die Minuten-Marke
                hinaus
                weitergehen oder auch nicht; es kann auch vorkommen, daß
                einer der
                beiden sehr früh aufhört zu spielen, einer erst nach
                Stunden, in diesem
                Fall kann das Stück mit dem Aufhören des letzten
                Ausführenden zu Ende
                sein oder auch weitergehen. Die engen Begrenzungen der auf jeden der
                zwei Ausführenden zugeschnittenen Zeitraster und der
                Zeitrahmen des
                Stückes insgesamt erweisen sich als Markierungen eines
                Spielraums, in
                dem unterschiedliche Entscheidungen des einzelnen möglich
                werden,
                Entscheidungen, die sich auch auf die Nähe oder Entfernung des
                einzelnen vom andern auswirken.
 
 Auch das Stück aus
                  dem garten
                für zwei Ausführende (1998) läßt
                eine besondere Beziehung der beiden
                Ausführenden zueinander entstehen. Wieder spielen beide einen
                Ton,
                "eher kurz", "sehr leise". Die Zeiträume werden diesmal weit
                auseinandergefaltet, die Grenzen weit gesteckt: "die beiden
                ausführenden haben abwechselnd 10 minuten zeit." "das
                stück dauert
                mehrere stunden."(6) Diesmal aber
                hört keiner der beiden endgültig auf
                zu spielen, wenn er den Ton einmal nicht gespielt hat. Die beiden
                Ausführenden spielen in den ihnen jeweils zugewiesenen
                Zeiträumen von
                zehn Minuten Dauer den Ton oder auch nicht: "in ihrer jeweiligen zeit
                spielen sie einmal den ton oder bleiben still." Nach mehreren Stunden
                kann das Ende eintreten: Das ein- oder auch mehrmalige Ausbleiben des
                Tons aber ist noch kein Zeichen für das Ende. Auch kann nicht
                einer
                allein das Ende bestimmen, das aber definitiv zu bestimmen ist.
 
 An
                diesen Stücken für zwei Ausführende ist
                vielleicht deutlicher noch als
                an den Solostücken zu erkennen, worin die Stille sich von der
                Pause
                unterscheidet. Auch die Pause kann eine veränderliche Dauer
                haben;
                variable Dauer ist wohl weniger eine spezielle
                Eigentümlichkeit der
                Stille. Doch: In der Stille entsteht Raum als weiter Außen-
                und
                Innenraum. Beim Übergang von Klang in Stille entfaltet sich
                der Raum
                durch seine Weitung und Öffnung nach außen und nach
                innen hin. In der
                Stille horcht das Ohr in die Weite des geschaffenen Raumes, wirkt sich
                die An- und Abwesenheit von Menschen, Dingen und Klängen im
                Raum aus,
                werden die Beziehungen zwischen Ausführenden und
                Hörern als unsichtbare
                Fäden im Raum sichtbar. Es scheint, daß der Stille
                mehr als der Pause
                diese Räumlichkeit zu eigen ist, die nicht ein Maß
                abgibt, sondern als
                Räumlichkeit leibhaftiger Anwesenheit und Abwesenheit,
                konkreter
                Existenz im Raum und wirklicher Atmungen zu verstehen ist. Als eine
                solche erfaßt sie auch den zeitlichen Aspekt
                gegenwärtigen Aufmerkens,
                Achtgebens, Wachseins, Gefordertseins.
 
 (...)
 
 Ein
                Spannungsverhältnis zwischen Setzen und Geschehenlassen tut
                sich auf.
                So notwendig die kompositorischen Entscheidungen und diejenigen der
                Ausführenden sind, so sehr besteht der Klang "in seiner ganzen
                natürlichen Differenzialität" auf Eigenleben. In
                Beugers Komposition unwritten
                  page für Violine solo (1994) bringen
                Klänge im Wechsel von
                Klang und Stille diese "Differenzialität" zur Wahrnehmung, die
                nicht im
                einzelnen vorab zu bestimmen, sondern im Augenblick der
                Ausführung erst
                zu hören ist: wenn der Klang sich "entfaltet". Im Unterschied
                zu den
                bisher erwähnten Stücken wurden einzelne Parameter
                per Zufallsverfahren
                festgelegt: die Anzahl der gleichzeitig erklingenden Töne
                (einfacher
                Griff oder Doppelgriff), die Färbung des Klanges durch
                Flageolett-Griff
                (bzw. der Verzicht auf diese Färbung), die Art des
                Flageoletts, die
                jweilige Tonhöhe bzw. die gleichzeitig zu greifenden
                Tonhöhen (bei
                Doppelgriff), die Dynamik und die Dauer. Mikrointervalle wurden nicht
                berücksichtigt.
 
 Das Stück stellt einen Ausschnitt aus unendlich
                vielen Klängen dar, einen Ausschnitt aus einem weiten Raum von
                Möglichkeiten. In der Partitur ist vermerkt: "unwritten page
                besteht
                aus 6 klingenden und 5 stillen Teilen. Die Klänge werden in
                größter
                Ruhe gespielt. Der Abstand zwischen zwei Einsätzen ist immer
                MM = 15.
                Die Länge eines Klanges wird durch die Länge des
                Striches bezeichnet.
                Es gibt kein Legato. Ein bis zum nächsten Einsatz
                durchgezogener Strich
                bedeutet: bis möglichst kurz vor dem nächsten
                Einsatz."(7) Die "stillen
                Teile" zwischen den sechs Klangfolgen dauern 34, 55, 13, 55 und noch
                einmal 55 Sekunden. Diese Stille der "stillen Teile" ist eine andere
                als die Stille zwischen zwei Klängen innerhalb eines
                "klingenden
                Teils": Beide Arten der Stille schaffen jedoch Kontinuität.
                Dort, wo
                die letzte noch zum gleichförmig beibehaltenen "Abstand
                zwischen zwei
                Einsätzen" gehörende Stille am Ende eines "klingenden
                Teils" auf die
                Stille eines "stillen Teils" stößt, prallen zwei
                verschiedene Arten von
                Stille aufeinander; dort, wo der "durchgezogene Strich" signalisiert,
                daß der Klang bis zum Einsatz des nächsten gehalten
                wird, erfolgt doch
                der Schnitt beim Zusammenprall der beiden Klänge.
                Zäsuren trennen Klang
                und Stille, doch auch Stille und Stille, Klang und Klang. Jeder Schnitt
                aber schafft Verbindung.
 
 Die Dauer eines "stillen Teils" ist in
                Sekunden angegeben, und die Dauer eines Klanges und einer
                entsprechenden Stille in den "klingenden Teilen" wird am Maß
 MM = 15
                und an der Strichlänge gemessen. In den "klingenden Teilen"
                entsteht
                ein Zeitraster aus Pulsationen, in den "stillen Teilen" ist dieses
                Raster aufgehoben - Wechsel von Gehen und Stehen: "Es ist eine Musik
                der Einzelklänge, ein ganz langsames, plan- und absichtsloses
                Dahinschreiten und immer wieder Innehalten, Stille. Ein ganz einfacher
                Tanz: gehen und stehen. Zeit in Bewegung, Zeit als Intensität."(8)
                Dem
                Wechsel von "klingenden" und "stillen Teilen" entspricht der Wechsel
                von Gehen und Stehen, der auch als ein Wechsel von
                äußerer und innerer
                Bewegung aufgefaßt werden kann. In der Stille wird die
                Bewegung
                fortgesetzt.
 
 "Alle Klänge sind leise. Die Bezeichnungen
                ‘ppp’ -
                ‘f’ beziehen sich auf Abstufungen innerhalb eines
                durchaus leisen
                Spektrums. Sie sollten eher qualitativ verstanden werden als Grade der
                Präsenz eines Klanges, etwas von
                ‘äußerst zerbrechlich, gerade noch
                wahrnehmbar’ bis ‘leise, aber richtig
                präsent’."(9)
                Die klanglichen
                Differenzen entstehen durch die Instabilität und
                Fragilität der Klänge.
                Notiert sind häufig schwierige Griffe, unterschiedliche
                Flageoletts in
                unterschiedlichen Lagen, so daß die Klänge bei der
                extrem
                zurückgenommenen Dynamik unterschiedlich ansprechen. Der
                Spieler ist
                aufgerufen, sich auf die Aktionen des Klanges einzulassen. Der erste
                Klang im letzten "klingenden Teil" - nach dem letzten "stillen Teil"
                von 55 Sekunden Dauer - ist solch ein Klang, der ein reges Eigenleben
                führt: Die beiden Strichweisen passen kaum zueinander,
                zwischen dem
                dis2 und dem dis4 entstehen Schwebungen. Der nächste Klang
                verliert
                durch die Aufeinanderfolge an Vertrautheit, obgleich er für
                sich allein
                genommen ein eher gewöhnlicher Klang ist; seine
                Gewöhnlichkeit
                erscheint in einem anderen Licht:
 
 
 
 (1)
                  Antoine Beuger, ins
                    ungebundene für Orgel. Hier auch die folgenden
                  Zitate. >zurück
 
 (2)
                  Antoine Beuger, ins
                    ungebundene für Flöte. >zurück
 
 (3)
                  Antoine Beuger, ins
                    ungebundene für Sprechstimme. >zurück
 
 (4)
                  Es handelt sich um die 3. Fassung des Gedichts. Vgl. Friedrich
                  Hölderlin, Sämtliche
                    Werke und Briefe. Erster Band. Hrsg. von Günter
                  Mieth, München (3. Aufl.) 1981, S. 394-395. >zurück
 
 (5)
                  Antoine Beuger, ein
                    ton. eher kurz. sehr leise für zwei
                  Ausführende. >zurück
 
 (6)
                  Antoine Beuger, aus dem
                    garten für zwei Ausführende. >zurück
 
 (7)
                  Antoine Beuger, unwritten
                    page, Anmerkungen. >zurück
 
 (8)
                  Antoine Beuger, in: Textheft zur CD
                    Maderna - Beuger - von Schweinitz - Stiegler, Edition
                  Wandelweiser Records 9606. Clemens Merkel, Violine. >zurück
 
 (9)
                  Antoine Beuger, unwritten
                    page, Anmerkungen. >zurück
 
 
 
 
 >
                    nach oben
 
 
 ______________________________________________________________________
 Doris Kösterke
 
 Über den Komponisten Antoine Beuger
 
 
 Klänge schwingen sich ein und verschwinden in eine Stille. Die
                Stille im Schatten eines verschwundenen Klanges klingt anders, als wenn
                dieser Klang nicht dagewesen wäre. Das musikalische Umspielen von
                Stille interessierte den 1955 im niederländischen Oosterhout
                geborenen Antoine Beuger schon, als er noch zur Schule ging. Zu diesem
                Spiel gehörte für ihn schon zu Beginn der siebziger Jahre das
                Kraftfeld, das im Raum spürbar wird, wenn mehrere Menschen ihre
                Erwartungen auf etwas fokussieren.
 
 Nach dem Abitur studierte Antoine Beuger Komposition bei Ton de Leeuw
                am Sweelinck Conservatorium Amsterdam und rieb sich so lange an dem
                Primat kompositorischer Handwerklichkeit, bis er nicht mehr wusste, was
                er künstlerisch eigentlich wollte. Nach Abschluss seines Studiums
                hatte er denn auch keine Lust mehr, sich überhaupt noch mit Musik
                zu beschäftigen: "Ich kam mir vor wie ein verklemmter
                Intellektueller, der lauter komplizierte Sachen schreibt, die keine
                Vitalität haben und fürchtete: wenn ich so weiterkomponiere,
                werde ich immer noch verstockter".
 
 Einen Ausweg erhoffte er sich von dem radikal kommunistischen
                Experiment einer internationalen Kommune. Dort bestand der Anspruch,
                private Empfindungen ebenso allgemein zugänglich zu machen wie
                Sacheigentum und private Beziehungen: "In der Kommune bestand das
                Gebot, jederzeit spontan und expressiv zu sein und auf jede expressive
                Aktion eine expressive Antwort folgen zu lassen", sagt Beuger und
                lacht: "Auf die Dauer wurde das natürlich ausgesprochen
                langweilig".
 
 Im allgemeinen Tauwetter von 1989/90 begegnete ihm dann seine heutige
                Frau. Zusammen verließen sie die bröckelnde Kommune,
                begannen in Düsseldorf ein neues Leben und Beuger fing wieder an,
                zu komponieren. Anders als zu Hochschulzeiten schuf er darin einfach
                jene Situationen, nach denen er sich am dringlichsten sehnte:
                Zeiträume zum genauen Hinhören und Zuhören; klangliche
                Ereignisse, die die Aufmerksamkeit aus den Sümpfen innerer
                Befindlichkeiten herausziehen; Zustände, in denen man sich die
                Zeit gibt, die Eindrücke in sich nachwirken zu lassen; - und
                jenseits des Extrovertierten und Expressiven entstand eine bebende
                Intensität und Vitalität.
 
 Beuger wunderte sich selbst über die große intuitive
                Sicherheit, die er bei seinem Rückgriff auf seine jugendliche
                Visionen verspürte und fast noch mehr über den
                äußeren Erfolg: 1990 beim Ensemblia-Kompositionswettbewerb
                der Stadt Mönchengladbach, 1991 beim Internationalen
                Kompositionsseminar Boswil, 1992 beim Forum junger Komponisten des WDR
                Köln. Für die Donaueschinger Musiktage 1995 erhielt er einen
                Kompositionsauftrag vom Südwestfunk, und zwei Jahre später
                wurde in Donaueschingen sein Orchesterstück fourth music for
                marcia hafif (3) uraufgeführt. Beim 6th International Kazimierz
                Serocki Composers Competion, 1998 in Warschau, bekam er den zweiten
                Preis.
 
 "Menschen, die meine Musik gehört haben, sagen mir immer wieder,
                dass sie sich darin verstanden fühlen", sagt Beuger. Das mag daran
                liegen, dass seine Klang-Kunstwerke ganz bewusst aus sich herausweisen:
                Im Mittelpunkt von Beugers künstlerischem Interesse steht, was
                seine Aktionen in denen auslösen, die sich mit ihnen
                beschäftigen.
 
 Der Theoretiker und Komponist, der Beuger in diesem Konzept schon in
                früher Zeit und später immer wieder am nachhaltigsten
                beeindruckt und inspiriert hat, war John Cage (1912-1992). "Dabei
                wollte ich Cage natürlich niemals nachmachen. Aber mir war klar:
                je mehr ich versuche, mich von ihm abzusetzen, um so mehr werde ich ihn
                unbewusst imitieren. Wenn ich jedoch versuche, seine Verfahren so genau
                wie möglich nachzuschaffen, dann werde ich merken, was der
                Unterschied ist zwischen mir und Cage".
 
 Dieser Gedankengang: Gleiches in den Raum zu stellen, um die
                Abweichungen zu finden, die Reibung scheinbar gleicher Phänomene
                aneinander als Schlüssel zum Auffächern der Verschiedenheiten
                zu benutzen, ist symptomatisch für Antoine Beugers Musik: Mit
                äußerst reduzierten Mitteln schafft er einen präzis
                definierten, meist ungewohnten Hörwinkel - "und darin ereignet
                sich möglicherweise sehr, sehr viel", sagt Beuger. "Aber das
                spielt sich dann in einem selber ab. Es ist mehr eine innere
                Intensität als eine äußere".
 
 Eine Serie von Solostücken, deren Aufführungsdauer zwischen
                45 Minuten und neun Stunden betragen kann, besteht aus dem Wechsel
                zwischen drei Sekunden Klang und drei Sekunden Stille, wobei die
                konkreten Klänge durch ein Zufallsverfahren aus einer Gesamtmenge
                zuvor bestimmter Klänge ausgewählt werden. Später
                schrieb Beuger Stücke, deren Partitur oft nur aus einem einzigen
                Satz bestehen, wie: "ein ton. eher kurz. sehr leise. die beiden
                ausführenden haben abwechselnd 10 minuten zeit. in ihrer
                jeweiligen zeit spielen sie einmal den ton oder bleiben still. das
                stück dauert mehrere stunden".
 
 "In meiner Musik gehe ich eigentlich subtraktiv vor", sagt Beuger, "und
                mittlerweile bin ich der Überzeugung, dass dieser Vorgang des
                Wegnehmens nie ein Ende nehmen wird. Man findet nirgends Elemente, aus
                denen sich alles zusammensetzt, und die man nicht mehr teilen kann,
                sondern dieser Prozess des Wegnehmens ist im Prinzip unendlich - nach
                jedem neuen Wegnehmen tut sich wieder eine ganz neue Welt auf. Ich
                merke das daran, dass für mich die Stille in den jetzigen
                Stücken ganz anders klingt als die Stille in früheren
                Stücken".
 
 "Wenn ich in ein Konzert gegangen bin, hat mich schon immer der Moment
                interessiert, wenn ein Stück aus ist und im besten Fall nicht
                gleich geklatscht wird. Und es ist mein großes Interesse, das,
                was sich normalerweise außerhalb eines Stückes ereignet, in
                die Musik hineinzuholen", sagt Beuger. Und so ist es, als würde er
                seine Stücke aus lauter Enden zusammensetzen - aus Zeiten der
                Stille im Schatten verschwundener Klänge, die im inneren Raum des
                Hörers weiterwirken.
 
 
 
 11.03.1999
 
 
 
 > nach oben
 
 
 ______________________________________________________________________
 Doris Kösterke
 
 Neunstündige Insel
 
 
 Der
                Kölner Künstler Mauser hat die 521 Strophen der "Lieder der Nonnen aus
                dem Garten Gautamo Buddhos", eines buddhistischen Textes aus dem
                Pali-Kanon, in kalligraphischen Lettern auf 11 schwere Büttenbögen im
                Format 1,30 mal 2,30 geschrieben - und ausradiert.
 
 Das
                Ausradieren war für Mauser nur zu konsequent. Denn das Abschreiben, so
                sagte er, sei für ihn eine intensive Form der Auseinandersetzung mit
                dem Textinhalt gewesen. Der vermittelte ihm den Wert des Schweigens.
                Deshalb sollten auch die Bilder schweigen. - "Das Ausradieren war
                mindestens genau so viel Arbeit, wie das Schreiben", sagte Mauser.
 
 Die
                Leere, die Stille als Produkt einer aufwendigen Leistung zu begreifen
                war ein Schlüssel, um auch mit der mehr als neun Stunden füllenden
                Komposition von Antoine Beuger etwas anfangen zu können, die in Mausers
                Atelier vor den ausradierten Büttenbögen aufgeführt wurde. Beugers aus
                dem garten ist Mauser gewidmet und bezieht sich auf dessen Werk.
 
 Der
                Notentext zu diesem Stück "für zwei ausführende" umfaßt nur 6
                Textzeilen:
 "ein ton. / eher kurz. / sehr leise. / die beiden
                ausführenden haben abwechselnd
 10 minuten zeit. / in ihrer jeweiligen
                zeit spielen sie einmal den ton oder bleiben still. / das stück dauert
                mehrere stunden".
 
 Die Uraufführung besorgten die holländische Sängerin Patricia van Oosten und Beuger selbst mit der Flöte.
 
 Der
                Anfang des Stückes lag im Unklaren: Antoine Beuger saß schon eine ganze
                Weile auf seinem Stuhl, als die Tür zum Atelier geschlossen wurde.
                Patricia van Oosten kam nach, verglich ihre Stoppuhr mit Beugers und
                setzte sich auf ihren Platz. Keine dieser Handlungen gab Auskunft
                darüber, ob das Stück damit nun begonnen hätte, oder nicht. Aber die
                Atmosphäre begann sich zu verdichten: Im Bewußtsein, daß da etwas
                geschah, das man Gefahr lief zu stören, schlossen Hinzukommende leise
                die Tür hinter sich und schlichen auf Zehenspitzen zu einem freien
                Platz. Verkehrsgeräusche, unglaubwürdig laut lachende Menschen im
                Garten vor dem Atelier - die Tür war zu, und damit fühlte man sich
                alledem vorübergehend enthoben. Schopenhauer schien zu grüßen, und
                natürlich John Cage, der Beuger über weite Strecken seines Lebens immer
                wieder am nachhaltigsten beeindruckt hat.
 
 An der Grenze der
                Hörbarkeit erschien ein Ton von Antoine Beuger. Geschärft durch die
                feinen, völlig unregelmäßigen Schwingungen dieses Flötentons widmete
                sich die Aufmerksamkeit umso stärker den Lauten der Stille. Der Abstand
                zum Alltag vergrößerte sich zusehends und die Augen lustwandelten über
                die schweren Büttenbögen aus Mausers Arbeit an den Wänden: hier und da
                war noch ein Stückchen Wachsstift übriggeblieben. Vertiefungen im
                Papier zeugten von der Kraft, mit denen es einmal beschrieben worden
                war.
 
 
 
 Anlaß, sich hier eingefunden zu haben, war, daß
                zwei Leute etwas taten. Aber dennoch kamen Patricia van Oostens
                Kopftöne immer wieder unerwartet, wie unwirklich, und dabei mit so
                reicher Körperresonanz, so rund, so weich, so luftig, daß man sich
                schon auf den nächsten freute.
 
 Das Abenteuer des Stillseins
                konnte man zu jeder Zeit unterbrechen, wärend das Stück seinen weiteren
                Verlauf nahm. Der Verlockungen dazu waren viele: das schöne Wetter
                draußen, die in der Laube aufgestellten Speisen und Getränke und vor
                allem die Neugier, wer die anderen Menschen waren, die sich zu dieser
                in landläufigem Sinne doch recht ausgefallenen Form der
                Freizeitgestaltung hier eingefunden hatten. Eine Zeit lang wirkte die
                heiter gelassene Aufmerksamkeit wie ein aus Energiefäden gesponnenes
                Netz. Aber nach etwa 5 1/2 Stunden begann die Frage, ob Beuger hier
                nicht einfach nur um des Auf-Die-Spitze-Treibens willen etwas auf die
                Spitze trieb, doch unerträglich zu drängeln.
 
 Für ihn sei immer
                besonders interessant, wie ein Stück aufhört, hatte Antoine Beuger
                einmal gesagt, und etwa zwanzig Minuten vor dem erwarteten Schluß der
                Aufführung steigerte sich die Aufmerksamkeit der Zuhörer zu einer
                ungeahnten Intensität. Ob die beiden Ausführenden ihren Ton von sich
                geben würden, oder nicht, wann er kommen und wie er sich gestalten
                würde, war den ganzen Tag über eine spannende Frage geblieben. Nun
                widmete man sich ihr wie einem seltenen Besucher, der in wenigen
                Minuten abreisen würde. Eine besondere Delikatesse war, daß niemand
                recht wußte, wie lange genau das Stück gehen würde. Die
                Zusammengekommenen verharrten jedoch auch dann noch für etwa zwanzig
                Minuten im Schweigen, als das Stück ganz eindeutig zuende war.
 
 Ein
                Stück Wahrnehmungs- und Bewußtseinskunst - zweifellos. Aber wie steht
                es mit den handwerklichen Aspekten dieser Komposition? - "Die
                Komposition ist eine Konsequenz aus meiner Arbeit der letzten acht
                Jahre", sagte der 1955 in den Niederlanden geborene Komponist. - "Was
                ich eigentlich schon immer wollte, war auf der einen Seite viel Stille,
                und auf der anderen Seite eine große Variationsbreite innerhalb der
                Klangereignisse", sagte er. "Vor etwa vier Jahren habe ich noch,
                aufgefächert nach möglichst vielen Merkmalen, genau angegeben, wie
                welcher Ton klingen soll. Aber dann habe ich gemerkt, daß ich mir um
                die Verschiedenheit der Klänge keine Gedanken machen muß, wenn ich die
                Situation präzis genug festlege, aus der heraus sie entstehen.
                Einerseits schaffe ich ein gleichbleibendes Raster, auf dem die
                Verschiedenheiten als solche erfahrbar werden", sagte Antoine Beuger.
                "Und andererseits formuliere ich die Bedingungen so, daß das
                herauskommt, was ich hören möchte. Zum Beispiel steht da die
                Formulierung 'eher kurz', weil die Singstimme einige Zeit braucht, um
                ihren Ton leben zu lassen. Bei der Flöte ist es anders. Da erreicht man
                die größtmögliche Verschiedenheit der Klänge, wenn man nicht recht im
                Spiel drin ist". Was ihm das Wichtigste gewesen wäre? - "Daß ich für
                neun Stunden meine Ruhe hatte. Ich war wie auf einer Insel". - Auf
                einer neunstündigen Insel im reißenden Strom des Gelebtwerdens.
 
 
 
 > nach oben
 |