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Entscheidungen (1997) >
die
kunst,
die liebe (1999) >
programmnotiz
(2000) >
Eva-Maria
Houben: Antoine Beuger, unwritten page –
Unschärfe des Scharfen, Schärfe des Unscharfen
>
Doris
Kösterke: Über den Komponisten Antoine Beuger (1999)
>
Doris
Kösterke: Neunstündige Insel >
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Aus:
Eva-Maria Houben, Alte Musik mit neuen Ohren. Schubert –
Bruckner – Wagner - ..., Saarbrücken, 2000
Antoine
Beuger, unwritten page –
Unschärfe des Scharfen, Schärfe des Unscharfen
(...)
Kompositionen
von Antoine Beuger machen immer wieder auf das Aufhören des
Klanges
aufmerksam. Klang schwingt ein, damit er aufhören kann. Die
Unschärfe
der Übergänge von Stille zu Klang, von Klang zu
Stille, von Klang zu
Klang, von Stille zu Stille und die Unschärfe von Beginn und
Schluß
werden ins Zentrum der Wahrnehmung gerückt. Dabei wird die
Musik aufs
äußerste reduziert. Innerhalb einer großen
Zeitspanne erklingen oft nur
wenige Töne.
ins
ungebundene für Orgel (1997) beginnt mit einem
leisen Ton beliebiger Tonhöhe. "beginn des tons ist beginn des
stückes."(1) So wird der Beginn
selbst nicht wahrgenommen. Erst wenn
das Stück bereits begonnen hat, wird der Einschnitt des
Beginns als
solcher bewußt. Der bei jedem Orgelkonzert
selbstverständliche Zwang
zur Entscheidung, jetzt gleich zu beginnen, wird hier wie mit
Scheinwerfern beleuchtet; es entsteht eine Grauzone zwischen jetzt
gleich und gerade eben. Der nächste Einschnitt erfolgt nach
zehn
Minuten, weil ab jetzt die Sicherheit der Anwesenheit des Tones
verlorengeht; zehn Minuten nach Beginn kann der Ton jederzeit
aufhören:
"frühestens nach 10, spätestens nach 40 minuten,
endet der ton." Die
nächste Zäsur wird gesetzt, wenn der Ton
tatsächlich aufhört,
spätestens nach 40 Minuten. Das Aufhören des Tons ist
ein Schnitt: Ab
jetzt ereignet sich nichts Bestimmtes mehr bis zum Schluß des
Stückes
"frühestens nach 60, spätestens nach 90 minuten". Der
Schluß ist der
letzte Einschnitt. In dieser Musik ist der Ton fast nur da, damit er
nach seinem Aufhören abwesend sein kann. Während
seiner Anwesenheit
verändert sich der Ton mit der Wahrnehmung des
Hörers: Der Ton wird -
je nach Registrierung - als mehr oder weniger geräuschhaft
empfunden;
unterschiedliche Teiltöne sind im Laufe der Zeit
herauszuhören; der Ton
verändert seine Farbe bei Kopf- und Körperbewegungen
des Hörers.
Während der Abwesenheit des Tons verändert sich die
Stille. ins
ungebundene für Flöte (1998) verunklart
die Schnittstelle zwischen den
Phasen der An- und Abwesenheit des Tons, weil der von der
Flöte
gespielte Ton, der "eher tief. eher kurz. sehr leise" ist,
während
seiner Anwesenheit "ganz ab und zu" klingt: So bleibt nach seinem
letzten kurzen Erklingen längere Zeit unklar, ob es wirklich
das letzte
Erklingen war oder ob der Ton noch einmal (und noch einmal etc.)
auftreten wird.(2) Die
plötzliche Abwesenheit des Tons im Orgelstück
wird als blitzartiger Schnitt erlebt. Die Unschärfe dieses
scharfen
Schnitts entsteht durch seine Blitzhaftigkeit. Er ist immer schon
längst vorbei, sobald man seiner gewahr wird:
Unschärfe des Scharfen.
Im Hinblick auf das Flötenstück hingegen
könnte zunächst der
oberflächliche Eindruck entstehen, daß der Ton, der
eben nicht
kontinuierlich, sondern "ganz ab und zu" klingt, sich
allmählich
verabschiedet; dieser Eindruck täuscht. Die Stille zwischen
den Tönen
ist eine andere Stille als die Stille nach dem letzten Ton. Der Ton ist
ebenso plötzlich nicht mehr da wie der kontinuierlich
angehaltene
Orgelton: Schärfe des Unscharfen. Vom Paradox des unscharfen,
unklaren
Schnitts und - auf der anderen Seite - des scharfen, klaren
Übergangs
her sind Entscheidungen zu treffen und vom Hörer
nachzuvollziehen. Das
Ende des Orgelstücks ist insofern problematisch, als der
Ausführende,
je nach den räumlichen Verhältnissen, häufig
unsichtbar bleibt. Was
heißt da: "frühestens nach 60, spätestens
nach 90 minuten, endet das
stück .."? Das Ende des Stückes für
Flöte ist klar: "nach frühestens
60, spätestens 90 minuten, endet das stück." Es endet
mit einem Abgang,
einem Abbruch, einem Abbau, in jedem Fall mit einem
Schlußstrich, der
die unscharfe Trennschärfe vor Augen und Ohren führt.
Der Ausführende
des Orgelstücks muß sich etwas einfallen lassen, um
ein deutliches Ende
zu markieren: So kann er beispielsweise ein anderes Stück
spielen oder
seinen Abgang inszenieren. Es ist Aufgabe des Interpreten, das Ende
klar zu machen, damit die Unklarheit des Klaren ans Licht kommt, damit
die Unschärfe des Schnittpunktes bewußt werden kann.
Ein drittes Stück, ins
ungebundene für Sprechstimme (1999),
ähnelt der Version für Flöte:
Der menschliche Atem kann nicht wie der Orgelatem mindestens zehn
Minuten lang ausströmen und erst dann aufhören zu
fließen. Wie im
Flötenstück der Ton "ganz ab und zu" erklingt, so
erklingt diesmal
"ganz ab und zu" das Wort "und".(3) Die Stille nach dem
letzten
Erklingen des Wortes läßt wie die Stille nach dem
letzten Erklingen des
Tons im Flötenstück den Hörer im Ungewissen,
ob dies das letzte
Erklingen war oder nicht, ob das Wort noch anwesend oder schon abwesend
ist. Der Schnitt ist wie im Flötenstück unscharf in
der Wahrnehmung der
Hörer und zugleich scharf bezüglich seiner
Endgültigkeit und
Unwiderruflichkeit. Die Konjunktion "und" führt immer weiter.
Mit jedem
Erklingen und Verklingen, auch mit dem letzten Erklingen und
Verklingen, schafft das Wort die Verbindung zum Danach. Mit dem
Orgelstück ins
ungebundene teilt das Stück für
Sprechstimme das Motto,
ein Wort aus Friedrich Hölderlins Gedicht Mnemosyne: "Und
immer / Ins
Ungebundene gehet eine Sehnsucht."(4)
(...)
In den
neueren Stücken für zwei Ausführende von
Antoine Beuger spielt jeder
der beiden in einem eigenen, begrenzten Zeitraum, ohne daß es
zu
Überschneidungen der Zeiträume kommt. ein ton. eher kurz. sehr leise
für zwei Ausführende (1998) zieht sehr
präzise Grenzmarken im
30-Sekunden-Takt: Einer spielt den eher kurzen, sehr leisen Ton "einmal
in der ersten hälfte jeder minute", einer "einmal in der
zweiten hälfte
jeder minute". "irgendwann" spielt einer der beiden den Ton nicht mehr,
und dann auch nicht mehr bis zum Ende, "irgendwann" spielt auch der
andere den Ton nicht mehr, ebenfalls dann nicht mehr bis zum Ende des
Stückes.(5) Das Aufhören
ist also für die beiden Ausführenden
endgültig. Das Stück soll "mindestens 30 minuten"
dauern. Wenn nach 30
Minuten keiner der beiden aufgehört hat, geht es weiter; haben
beide
bereits sehr frühzeitig aufgehört (vielleicht schon
in der ersten
Viertelstunde), kann das Stück über die Minuten-Marke
hinaus
weitergehen oder auch nicht; es kann auch vorkommen, daß
einer der
beiden sehr früh aufhört zu spielen, einer erst nach
Stunden, in diesem
Fall kann das Stück mit dem Aufhören des letzten
Ausführenden zu Ende
sein oder auch weitergehen. Die engen Begrenzungen der auf jeden der
zwei Ausführenden zugeschnittenen Zeitraster und der
Zeitrahmen des
Stückes insgesamt erweisen sich als Markierungen eines
Spielraums, in
dem unterschiedliche Entscheidungen des einzelnen möglich
werden,
Entscheidungen, die sich auch auf die Nähe oder Entfernung des
einzelnen vom andern auswirken.
Auch das Stück aus
dem garten
für zwei Ausführende (1998) läßt
eine besondere Beziehung der beiden
Ausführenden zueinander entstehen. Wieder spielen beide einen
Ton,
"eher kurz", "sehr leise". Die Zeiträume werden diesmal weit
auseinandergefaltet, die Grenzen weit gesteckt: "die beiden
ausführenden haben abwechselnd 10 minuten zeit." "das
stück dauert
mehrere stunden."(6) Diesmal aber
hört keiner der beiden endgültig auf
zu spielen, wenn er den Ton einmal nicht gespielt hat. Die beiden
Ausführenden spielen in den ihnen jeweils zugewiesenen
Zeiträumen von
zehn Minuten Dauer den Ton oder auch nicht: "in ihrer jeweiligen zeit
spielen sie einmal den ton oder bleiben still." Nach mehreren Stunden
kann das Ende eintreten: Das ein- oder auch mehrmalige Ausbleiben des
Tons aber ist noch kein Zeichen für das Ende. Auch kann nicht
einer
allein das Ende bestimmen, das aber definitiv zu bestimmen ist.
An
diesen Stücken für zwei Ausführende ist
vielleicht deutlicher noch als
an den Solostücken zu erkennen, worin die Stille sich von der
Pause
unterscheidet. Auch die Pause kann eine veränderliche Dauer
haben;
variable Dauer ist wohl weniger eine spezielle
Eigentümlichkeit der
Stille. Doch: In der Stille entsteht Raum als weiter Außen-
und
Innenraum. Beim Übergang von Klang in Stille entfaltet sich
der Raum
durch seine Weitung und Öffnung nach außen und nach
innen hin. In der
Stille horcht das Ohr in die Weite des geschaffenen Raumes, wirkt sich
die An- und Abwesenheit von Menschen, Dingen und Klängen im
Raum aus,
werden die Beziehungen zwischen Ausführenden und
Hörern als unsichtbare
Fäden im Raum sichtbar. Es scheint, daß der Stille
mehr als der Pause
diese Räumlichkeit zu eigen ist, die nicht ein Maß
abgibt, sondern als
Räumlichkeit leibhaftiger Anwesenheit und Abwesenheit,
konkreter
Existenz im Raum und wirklicher Atmungen zu verstehen ist. Als eine
solche erfaßt sie auch den zeitlichen Aspekt
gegenwärtigen Aufmerkens,
Achtgebens, Wachseins, Gefordertseins.
(...)
Ein
Spannungsverhältnis zwischen Setzen und Geschehenlassen tut
sich auf.
So notwendig die kompositorischen Entscheidungen und diejenigen der
Ausführenden sind, so sehr besteht der Klang "in seiner ganzen
natürlichen Differenzialität" auf Eigenleben. In
Beugers Komposition unwritten
page für Violine solo (1994) bringen
Klänge im Wechsel von
Klang und Stille diese "Differenzialität" zur Wahrnehmung, die
nicht im
einzelnen vorab zu bestimmen, sondern im Augenblick der
Ausführung erst
zu hören ist: wenn der Klang sich "entfaltet". Im Unterschied
zu den
bisher erwähnten Stücken wurden einzelne Parameter
per Zufallsverfahren
festgelegt: die Anzahl der gleichzeitig erklingenden Töne
(einfacher
Griff oder Doppelgriff), die Färbung des Klanges durch
Flageolett-Griff
(bzw. der Verzicht auf diese Färbung), die Art des
Flageoletts, die
jweilige Tonhöhe bzw. die gleichzeitig zu greifenden
Tonhöhen (bei
Doppelgriff), die Dynamik und die Dauer. Mikrointervalle wurden nicht
berücksichtigt.
Das Stück stellt einen Ausschnitt aus unendlich
vielen Klängen dar, einen Ausschnitt aus einem weiten Raum von
Möglichkeiten. In der Partitur ist vermerkt: "unwritten page
besteht
aus 6 klingenden und 5 stillen Teilen. Die Klänge werden in
größter
Ruhe gespielt. Der Abstand zwischen zwei Einsätzen ist immer
MM = 15.
Die Länge eines Klanges wird durch die Länge des
Striches bezeichnet.
Es gibt kein Legato. Ein bis zum nächsten Einsatz
durchgezogener Strich
bedeutet: bis möglichst kurz vor dem nächsten
Einsatz."(7) Die "stillen
Teile" zwischen den sechs Klangfolgen dauern 34, 55, 13, 55 und noch
einmal 55 Sekunden. Diese Stille der "stillen Teile" ist eine andere
als die Stille zwischen zwei Klängen innerhalb eines
"klingenden
Teils": Beide Arten der Stille schaffen jedoch Kontinuität.
Dort, wo
die letzte noch zum gleichförmig beibehaltenen "Abstand
zwischen zwei
Einsätzen" gehörende Stille am Ende eines "klingenden
Teils" auf die
Stille eines "stillen Teils" stößt, prallen zwei
verschiedene Arten von
Stille aufeinander; dort, wo der "durchgezogene Strich" signalisiert,
daß der Klang bis zum Einsatz des nächsten gehalten
wird, erfolgt doch
der Schnitt beim Zusammenprall der beiden Klänge.
Zäsuren trennen Klang
und Stille, doch auch Stille und Stille, Klang und Klang. Jeder Schnitt
aber schafft Verbindung.
Die Dauer eines "stillen Teils" ist in
Sekunden angegeben, und die Dauer eines Klanges und einer
entsprechenden Stille in den "klingenden Teilen" wird am Maß
MM = 15
und an der Strichlänge gemessen. In den "klingenden Teilen"
entsteht
ein Zeitraster aus Pulsationen, in den "stillen Teilen" ist dieses
Raster aufgehoben - Wechsel von Gehen und Stehen: "Es ist eine Musik
der Einzelklänge, ein ganz langsames, plan- und absichtsloses
Dahinschreiten und immer wieder Innehalten, Stille. Ein ganz einfacher
Tanz: gehen und stehen. Zeit in Bewegung, Zeit als Intensität."(8)
Dem
Wechsel von "klingenden" und "stillen Teilen" entspricht der Wechsel
von Gehen und Stehen, der auch als ein Wechsel von
äußerer und innerer
Bewegung aufgefaßt werden kann. In der Stille wird die
Bewegung
fortgesetzt.
"Alle Klänge sind leise. Die Bezeichnungen
‘ppp’ -
‘f’ beziehen sich auf Abstufungen innerhalb eines
durchaus leisen
Spektrums. Sie sollten eher qualitativ verstanden werden als Grade der
Präsenz eines Klanges, etwas von
‘äußerst zerbrechlich, gerade noch
wahrnehmbar’ bis ‘leise, aber richtig
präsent’."(9)
Die klanglichen
Differenzen entstehen durch die Instabilität und
Fragilität der Klänge.
Notiert sind häufig schwierige Griffe, unterschiedliche
Flageoletts in
unterschiedlichen Lagen, so daß die Klänge bei der
extrem
zurückgenommenen Dynamik unterschiedlich ansprechen. Der
Spieler ist
aufgerufen, sich auf die Aktionen des Klanges einzulassen. Der erste
Klang im letzten "klingenden Teil" - nach dem letzten "stillen Teil"
von 55 Sekunden Dauer - ist solch ein Klang, der ein reges Eigenleben
führt: Die beiden Strichweisen passen kaum zueinander,
zwischen dem
dis2 und dem dis4 entstehen Schwebungen. Der nächste Klang
verliert
durch die Aufeinanderfolge an Vertrautheit, obgleich er für
sich allein
genommen ein eher gewöhnlicher Klang ist; seine
Gewöhnlichkeit
erscheint in einem anderen Licht:
(1)
Antoine Beuger, ins
ungebundene für Orgel. Hier auch die folgenden
Zitate. >zurück
(2)
Antoine Beuger, ins
ungebundene für Flöte. >zurück
(3)
Antoine Beuger, ins
ungebundene für Sprechstimme. >zurück
(4)
Es handelt sich um die 3. Fassung des Gedichts. Vgl. Friedrich
Hölderlin, Sämtliche
Werke und Briefe. Erster Band. Hrsg. von Günter
Mieth, München (3. Aufl.) 1981, S. 394-395. >zurück
(5)
Antoine Beuger, ein
ton. eher kurz. sehr leise für zwei
Ausführende. >zurück
(6)
Antoine Beuger, aus dem
garten für zwei Ausführende. >zurück
(7)
Antoine Beuger, unwritten
page, Anmerkungen. >zurück
(8)
Antoine Beuger, in: Textheft zur CD
Maderna - Beuger - von Schweinitz - Stiegler, Edition
Wandelweiser Records 9606. Clemens Merkel, Violine. >zurück
(9)
Antoine Beuger, unwritten
page, Anmerkungen. >zurück
>
nach oben
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Doris Kösterke
Über den Komponisten Antoine Beuger
Klänge schwingen sich ein und verschwinden in eine Stille. Die
Stille im Schatten eines verschwundenen Klanges klingt anders, als wenn
dieser Klang nicht dagewesen wäre. Das musikalische Umspielen von
Stille interessierte den 1955 im niederländischen Oosterhout
geborenen Antoine Beuger schon, als er noch zur Schule ging. Zu diesem
Spiel gehörte für ihn schon zu Beginn der siebziger Jahre das
Kraftfeld, das im Raum spürbar wird, wenn mehrere Menschen ihre
Erwartungen auf etwas fokussieren.
Nach dem Abitur studierte Antoine Beuger Komposition bei Ton de Leeuw
am Sweelinck Conservatorium Amsterdam und rieb sich so lange an dem
Primat kompositorischer Handwerklichkeit, bis er nicht mehr wusste, was
er künstlerisch eigentlich wollte. Nach Abschluss seines Studiums
hatte er denn auch keine Lust mehr, sich überhaupt noch mit Musik
zu beschäftigen: "Ich kam mir vor wie ein verklemmter
Intellektueller, der lauter komplizierte Sachen schreibt, die keine
Vitalität haben und fürchtete: wenn ich so weiterkomponiere,
werde ich immer noch verstockter".
Einen Ausweg erhoffte er sich von dem radikal kommunistischen
Experiment einer internationalen Kommune. Dort bestand der Anspruch,
private Empfindungen ebenso allgemein zugänglich zu machen wie
Sacheigentum und private Beziehungen: "In der Kommune bestand das
Gebot, jederzeit spontan und expressiv zu sein und auf jede expressive
Aktion eine expressive Antwort folgen zu lassen", sagt Beuger und
lacht: "Auf die Dauer wurde das natürlich ausgesprochen
langweilig".
Im allgemeinen Tauwetter von 1989/90 begegnete ihm dann seine heutige
Frau. Zusammen verließen sie die bröckelnde Kommune,
begannen in Düsseldorf ein neues Leben und Beuger fing wieder an,
zu komponieren. Anders als zu Hochschulzeiten schuf er darin einfach
jene Situationen, nach denen er sich am dringlichsten sehnte:
Zeiträume zum genauen Hinhören und Zuhören; klangliche
Ereignisse, die die Aufmerksamkeit aus den Sümpfen innerer
Befindlichkeiten herausziehen; Zustände, in denen man sich die
Zeit gibt, die Eindrücke in sich nachwirken zu lassen; - und
jenseits des Extrovertierten und Expressiven entstand eine bebende
Intensität und Vitalität.
Beuger wunderte sich selbst über die große intuitive
Sicherheit, die er bei seinem Rückgriff auf seine jugendliche
Visionen verspürte und fast noch mehr über den
äußeren Erfolg: 1990 beim Ensemblia-Kompositionswettbewerb
der Stadt Mönchengladbach, 1991 beim Internationalen
Kompositionsseminar Boswil, 1992 beim Forum junger Komponisten des WDR
Köln. Für die Donaueschinger Musiktage 1995 erhielt er einen
Kompositionsauftrag vom Südwestfunk, und zwei Jahre später
wurde in Donaueschingen sein Orchesterstück fourth music for
marcia hafif (3) uraufgeführt. Beim 6th International Kazimierz
Serocki Composers Competion, 1998 in Warschau, bekam er den zweiten
Preis.
"Menschen, die meine Musik gehört haben, sagen mir immer wieder,
dass sie sich darin verstanden fühlen", sagt Beuger. Das mag daran
liegen, dass seine Klang-Kunstwerke ganz bewusst aus sich herausweisen:
Im Mittelpunkt von Beugers künstlerischem Interesse steht, was
seine Aktionen in denen auslösen, die sich mit ihnen
beschäftigen.
Der Theoretiker und Komponist, der Beuger in diesem Konzept schon in
früher Zeit und später immer wieder am nachhaltigsten
beeindruckt und inspiriert hat, war John Cage (1912-1992). "Dabei
wollte ich Cage natürlich niemals nachmachen. Aber mir war klar:
je mehr ich versuche, mich von ihm abzusetzen, um so mehr werde ich ihn
unbewusst imitieren. Wenn ich jedoch versuche, seine Verfahren so genau
wie möglich nachzuschaffen, dann werde ich merken, was der
Unterschied ist zwischen mir und Cage".
Dieser Gedankengang: Gleiches in den Raum zu stellen, um die
Abweichungen zu finden, die Reibung scheinbar gleicher Phänomene
aneinander als Schlüssel zum Auffächern der Verschiedenheiten
zu benutzen, ist symptomatisch für Antoine Beugers Musik: Mit
äußerst reduzierten Mitteln schafft er einen präzis
definierten, meist ungewohnten Hörwinkel - "und darin ereignet
sich möglicherweise sehr, sehr viel", sagt Beuger. "Aber das
spielt sich dann in einem selber ab. Es ist mehr eine innere
Intensität als eine äußere".
Eine Serie von Solostücken, deren Aufführungsdauer zwischen
45 Minuten und neun Stunden betragen kann, besteht aus dem Wechsel
zwischen drei Sekunden Klang und drei Sekunden Stille, wobei die
konkreten Klänge durch ein Zufallsverfahren aus einer Gesamtmenge
zuvor bestimmter Klänge ausgewählt werden. Später
schrieb Beuger Stücke, deren Partitur oft nur aus einem einzigen
Satz bestehen, wie: "ein ton. eher kurz. sehr leise. die beiden
ausführenden haben abwechselnd 10 minuten zeit. in ihrer
jeweiligen zeit spielen sie einmal den ton oder bleiben still. das
stück dauert mehrere stunden".
"In meiner Musik gehe ich eigentlich subtraktiv vor", sagt Beuger, "und
mittlerweile bin ich der Überzeugung, dass dieser Vorgang des
Wegnehmens nie ein Ende nehmen wird. Man findet nirgends Elemente, aus
denen sich alles zusammensetzt, und die man nicht mehr teilen kann,
sondern dieser Prozess des Wegnehmens ist im Prinzip unendlich - nach
jedem neuen Wegnehmen tut sich wieder eine ganz neue Welt auf. Ich
merke das daran, dass für mich die Stille in den jetzigen
Stücken ganz anders klingt als die Stille in früheren
Stücken".
"Wenn ich in ein Konzert gegangen bin, hat mich schon immer der Moment
interessiert, wenn ein Stück aus ist und im besten Fall nicht
gleich geklatscht wird. Und es ist mein großes Interesse, das,
was sich normalerweise außerhalb eines Stückes ereignet, in
die Musik hineinzuholen", sagt Beuger. Und so ist es, als würde er
seine Stücke aus lauter Enden zusammensetzen - aus Zeiten der
Stille im Schatten verschwundener Klänge, die im inneren Raum des
Hörers weiterwirken.
11.03.1999
> nach oben
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Doris Kösterke
Neunstündige Insel
Der
Kölner Künstler Mauser hat die 521 Strophen der "Lieder der Nonnen aus
dem Garten Gautamo Buddhos", eines buddhistischen Textes aus dem
Pali-Kanon, in kalligraphischen Lettern auf 11 schwere Büttenbögen im
Format 1,30 mal 2,30 geschrieben - und ausradiert.
Das
Ausradieren war für Mauser nur zu konsequent. Denn das Abschreiben, so
sagte er, sei für ihn eine intensive Form der Auseinandersetzung mit
dem Textinhalt gewesen. Der vermittelte ihm den Wert des Schweigens.
Deshalb sollten auch die Bilder schweigen. - "Das Ausradieren war
mindestens genau so viel Arbeit, wie das Schreiben", sagte Mauser.
Die
Leere, die Stille als Produkt einer aufwendigen Leistung zu begreifen
war ein Schlüssel, um auch mit der mehr als neun Stunden füllenden
Komposition von Antoine Beuger etwas anfangen zu können, die in Mausers
Atelier vor den ausradierten Büttenbögen aufgeführt wurde. Beugers aus
dem garten ist Mauser gewidmet und bezieht sich auf dessen Werk.
Der
Notentext zu diesem Stück "für zwei ausführende" umfaßt nur 6
Textzeilen:
"ein ton. / eher kurz. / sehr leise. / die beiden
ausführenden haben abwechselnd
10 minuten zeit. / in ihrer jeweiligen
zeit spielen sie einmal den ton oder bleiben still. / das stück dauert
mehrere stunden".
Die Uraufführung besorgten die holländische Sängerin Patricia van Oosten und Beuger selbst mit der Flöte.
Der
Anfang des Stückes lag im Unklaren: Antoine Beuger saß schon eine ganze
Weile auf seinem Stuhl, als die Tür zum Atelier geschlossen wurde.
Patricia van Oosten kam nach, verglich ihre Stoppuhr mit Beugers und
setzte sich auf ihren Platz. Keine dieser Handlungen gab Auskunft
darüber, ob das Stück damit nun begonnen hätte, oder nicht. Aber die
Atmosphäre begann sich zu verdichten: Im Bewußtsein, daß da etwas
geschah, das man Gefahr lief zu stören, schlossen Hinzukommende leise
die Tür hinter sich und schlichen auf Zehenspitzen zu einem freien
Platz. Verkehrsgeräusche, unglaubwürdig laut lachende Menschen im
Garten vor dem Atelier - die Tür war zu, und damit fühlte man sich
alledem vorübergehend enthoben. Schopenhauer schien zu grüßen, und
natürlich John Cage, der Beuger über weite Strecken seines Lebens immer
wieder am nachhaltigsten beeindruckt hat.
An der Grenze der
Hörbarkeit erschien ein Ton von Antoine Beuger. Geschärft durch die
feinen, völlig unregelmäßigen Schwingungen dieses Flötentons widmete
sich die Aufmerksamkeit umso stärker den Lauten der Stille. Der Abstand
zum Alltag vergrößerte sich zusehends und die Augen lustwandelten über
die schweren Büttenbögen aus Mausers Arbeit an den Wänden: hier und da
war noch ein Stückchen Wachsstift übriggeblieben. Vertiefungen im
Papier zeugten von der Kraft, mit denen es einmal beschrieben worden
war.
Anlaß, sich hier eingefunden zu haben, war, daß
zwei Leute etwas taten. Aber dennoch kamen Patricia van Oostens
Kopftöne immer wieder unerwartet, wie unwirklich, und dabei mit so
reicher Körperresonanz, so rund, so weich, so luftig, daß man sich
schon auf den nächsten freute.
Das Abenteuer des Stillseins
konnte man zu jeder Zeit unterbrechen, wärend das Stück seinen weiteren
Verlauf nahm. Der Verlockungen dazu waren viele: das schöne Wetter
draußen, die in der Laube aufgestellten Speisen und Getränke und vor
allem die Neugier, wer die anderen Menschen waren, die sich zu dieser
in landläufigem Sinne doch recht ausgefallenen Form der
Freizeitgestaltung hier eingefunden hatten. Eine Zeit lang wirkte die
heiter gelassene Aufmerksamkeit wie ein aus Energiefäden gesponnenes
Netz. Aber nach etwa 5 1/2 Stunden begann die Frage, ob Beuger hier
nicht einfach nur um des Auf-Die-Spitze-Treibens willen etwas auf die
Spitze trieb, doch unerträglich zu drängeln.
Für ihn sei immer
besonders interessant, wie ein Stück aufhört, hatte Antoine Beuger
einmal gesagt, und etwa zwanzig Minuten vor dem erwarteten Schluß der
Aufführung steigerte sich die Aufmerksamkeit der Zuhörer zu einer
ungeahnten Intensität. Ob die beiden Ausführenden ihren Ton von sich
geben würden, oder nicht, wann er kommen und wie er sich gestalten
würde, war den ganzen Tag über eine spannende Frage geblieben. Nun
widmete man sich ihr wie einem seltenen Besucher, der in wenigen
Minuten abreisen würde. Eine besondere Delikatesse war, daß niemand
recht wußte, wie lange genau das Stück gehen würde. Die
Zusammengekommenen verharrten jedoch auch dann noch für etwa zwanzig
Minuten im Schweigen, als das Stück ganz eindeutig zuende war.
Ein
Stück Wahrnehmungs- und Bewußtseinskunst - zweifellos. Aber wie steht
es mit den handwerklichen Aspekten dieser Komposition? - "Die
Komposition ist eine Konsequenz aus meiner Arbeit der letzten acht
Jahre", sagte der 1955 in den Niederlanden geborene Komponist. - "Was
ich eigentlich schon immer wollte, war auf der einen Seite viel Stille,
und auf der anderen Seite eine große Variationsbreite innerhalb der
Klangereignisse", sagte er. "Vor etwa vier Jahren habe ich noch,
aufgefächert nach möglichst vielen Merkmalen, genau angegeben, wie
welcher Ton klingen soll. Aber dann habe ich gemerkt, daß ich mir um
die Verschiedenheit der Klänge keine Gedanken machen muß, wenn ich die
Situation präzis genug festlege, aus der heraus sie entstehen.
Einerseits schaffe ich ein gleichbleibendes Raster, auf dem die
Verschiedenheiten als solche erfahrbar werden", sagte Antoine Beuger.
"Und andererseits formuliere ich die Bedingungen so, daß das
herauskommt, was ich hören möchte. Zum Beispiel steht da die
Formulierung 'eher kurz', weil die Singstimme einige Zeit braucht, um
ihren Ton leben zu lassen. Bei der Flöte ist es anders. Da erreicht man
die größtmögliche Verschiedenheit der Klänge, wenn man nicht recht im
Spiel drin ist". Was ihm das Wichtigste gewesen wäre? - "Daß ich für
neun Stunden meine Ruhe hatte. Ich war wie auf einer Insel". - Auf
einer neunstündigen Insel im reißenden Strom des Gelebtwerdens.
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