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Doris Kösterke
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Doris Kösterke

Cages Musik als Lebenshilfe

Vortrag, gehalten auf dem Symposium „About Cage“ im  i-camp, München, 30.9.2012


Sehr geehrte Damen und Herren

Ich grüße Sie herzlich. Denn ich freue mich, dass Sie hier sind und ich Ihnen etwas erzählen kann, das mich immer sehr fasziniert hat: über die lebenspraktische und gesellschaftsutopische Dimension in Cages künstlerischem Schaffen.

Es geht hier quasi um eine Meta-Ebene von Kunst, die ich in Anlehnung an eine Formulierung von Heinz-Klaus Metzger mit der Frage „Kultur – wozu?“ umreißen möchte.
Diese Frage schwebt keineswegs abstrakt über Cages Schaffen. Spätestens seit 1958, seit seinen „Variations I“, sind seine Stücke handgreifliche Modelle für einen besseren Umgang mit sich selbst, zunehmend dann auch für einen besseren Umgang mit den Mitmenschen und auch für eine bessere Gesellschaft.

Mein Titel, „Musik als Lebenshilfe“ ist dabei mehrdeutig.

Auf der persönlichen Ebene hat wahrscheinlich jeder von uns schon erfahren, dass es in schwierigen Lebenssituationen sehr helfen kann, sich mit Musik zu beschäftigen. Sei es, indem man sie hört, selbst spielt und vielleicht auch verbale Wegweiser nutzt, um noch tiefer in sie einzudringen und sie noch umfassender wahrzunehmen.
Cages Musik trägt jedoch auch den Anspruch in sich, dem Leben schlechthin zu helfen, das durch die Lebensweise moderner Menschen zunehmend in Gefahr gerät. Und zwar in doppeltem Sinne: Sie möchte der Zerstörung der Lebensgrundlage entgegenwirken. Aber sie möchte auch jeden einzelnen Menschen lebendiger machen. Wobei sich der Kreis wieder schließt.

Nun habe ich Ihnen gleichsam ein Knäuel vorgestellt, das ich im Folgenden versuche aufzudröseln. Wenn ein paar Knoten bleiben, können wir sie vielleicht später noch gemeinsam auflösen.
Ich beginne chronologisch, mit der persönlichen Ebene.

Mitte der Vierziger Jahre hatte Cage persönliche Schwierigkeiten, die auch zur Scheidung von seiner Frau Xenia führten.
In diese Zeit der Krise, in der er sich auch fragte, warum er überhaupt Musik schrieb, fällt seine Bekanntschaft mit der indischen Musikerin Gita Sarabhai. Er gab ihr Unterricht in Kontrapunkt, und als „Honorar“ hatten sie vereinbart, dass sie ihm dafür etwas über die indische Musik erzählte. Von ihr erfuhr er den Grund, warum man nach indischer Auffassung ein Musikstück macht: „Um den Geist zur Ruhe zu bringen und ihn so den göttlichen Einflüssen zu öffnen“.
Cage fragte sich, was „göttliche Einflüsse“ sind und was ein „ruhiger Geist“ ist und begann, sich mit fernöstlicher Philosophie zu beschäftigen.
Er hörte Vorträge von Alan Watts, Anfang der 1950er Jahre schrieb er sich an der Columbia University bei Daisetz Teitaro Suzuki ein.
Cages Fernost-Rezeption ist die eines pragmatischer Eklektikers, der unbekümmert die verschiedensten Konzepte durchforstet und sich herausnimmt, was er brauchen kann. So bitte ich alle zu wissenschaftlichem Denken Erzogenen und alle Spezialisten für östliche Philosophie unter Ihnen, tief durchzuatmen und sich sagen: Cage ist Künstler. Er darf das.
Von Suzuki übernahm Cage eine Sicht von der Welt als ein komplexes gegenseitiges Durchdringen gleichberechtigter Zentren, das er in den Begriff  „Unimpededness and Interpenetration“ fasste. Das ungehinderte Einander Durchdringen wurde sein Ideal, das er auf allen Gebieten seines Wirkens, von der Musik zum sozialen Miteinander zu verwirklichen suchte. Wobei er seine Gedanken zunächst auf dem Gebiet der Musik ausprobierte, um sie später auf die soziale Ebene zu übertragen.
Aus dem Zen-Buddhismus lernte Cage, alles menschliche Leiden käme aus dem emotionalen „Durst“: Man will etwas, das man nicht bekommen kann. Und leidet darunter, dass man es nicht bekommen kann. Und je mehr man sich an dem festbeißt, das man nicht bekommt, umso mehr verengt sich der Blick auf das, was man unbedingt haben will. Bis man schließlich nur noch das sieht, was man nicht hat und an allen schönen Dingen des Lebens achtlos vorbeigeht.
Wenn man also glücklich leben will, fand Cage, braucht man sich einfach nur abzugewöhnen, bestimmte Dinge zu wollen oder nicht zu wollen.
Die Funktion von Musik in der indischen Tradition: den Geist zur Ruhe bringen und ihn für die Göttlichen Einflüsse zu öffnen interpretierte Cage später so, dass die Göttlichen Einflüsse nichts anderes wären als die Umwelt, in der wir uns befinden..
Man schottet sich von der Umwelt ab, wenn man ein Ziel verfolgt. Etwa, wenn man komponieren will.
Cage wollte sein Komponieren aber nicht mehr als etwas begreifen, das neben dem Leben stattfindet und deshalb auch ständig vom Leben gestört werden kann. So beschloss er, sein Komponieren selbst zur Zen-Übung zu machen. Sein Ziel war zunächst, Töne nichts als freie Töne sein zu lassen, ohne den „Klebstoff“ einer Technik, die über sie bestimmte und ihnen einen bestimmten Platz in einem Ganzen zuwies. Er versuchte, sich über die Art seines Komponierens mit Diagrammen und verschiedenen Zufallsoperationen von der Tyrannei seiner Vorlieben und Abneigungen, möglichst sogar von seiner Art zu denken zu befreien. Und in Perioden einkomponierter Stille Fenster und Türen zu den Geräuschen der Umgebung zu öffnen. „Ich arbeite im Bewusstsein, das Gegebene zu akzeptieren, anstatt es kontrollieren zu wollen“, formulierte er.
So machte er seine Musik zu einem Mittel, sich selbst zu verändern. Zunächst, um selbst mit seinem Leben besser klarzukommen und stellte fest, dass ihm das gut tat; dass er viel offener und fröhlicher wurde. Und fand auch, dass seine Musik, befreit von seinem persönlichen Geschmack, viel interessanter klang als alles, was er sich von sich aus hätte einfallen lassen können.
Aber nicht nur das. Nicht von ungefähr hat er etwa seine „Lecture on the Weather“, die er 1976 im Auftrag des kanadischen Rundfunks für die 200-Jahrfeier der USA schrieb, mittels Zufallsoperationen und in den Proportionen seines Stillen Stückes 4’33’’ geschrieben. Cage begriff dies als konstruktive Kritik am Führungsstil der USA. Denn anders als durch selbstsüchtig kalkulierende Entscheidungen könne über Zufallsentscheidungen niemand systematisch ausgebeutet und unterdrückt werden, weder die Umwelt noch ärmere Mitmenschen.
Das Stillsein, hatte er bereits als Fünfzehnjähriger als politisches Mittel angepriesen und damit einen Rhetorikwettbewerb kalifornischer Highschools gewonnen. Das Thema hieß „Lateinamerika – wie sollen wir uns verhalten?“. Und der Kernsatz in Cages Antwort war:
„Es wäre eine der größten Segnungen, die den Vereinigten Staaten … widerfahren könnte, wenn sie ihre Industrie anhalten würden, wenn ihre Wirtschaft aussetzte und dem Volk das Reden verginge, wenn schließlich alles stillstehen würde, was läuft … . Dann könnten wir die Frage beantworten ‚Was sollten wir tun?’. Denn wir wären schweigsam und still und hätten Gelegenheit zu erfahren, dass andere Völker denken“.
Cage meinte seine Kritik durchaus fürsorglich. In seinem Vorwort zur „Lecture on the Weather“ erinnert er an große Weltreiche der Geschichte, die im Streben um Ertrag und Macht zugrunde gegangen sind. Seine „Lecture on the Weather“ war als ein nachhaltiges Stück Lebenshilfe für die USA gemeint.

Als Lebenshilfe im zwischenmenschlichen Bereich sollten Töne nichts als Töne sein, damit auch Menschen nichts als freie Menschen sein könnten.

Wie geht das?

Ich möchte versuchen, Ihnen das anhand der „Etudes Australes“ (1974/75) zu verdeutlichen, die Sabine Liebner gestern Abend für uns gespielt hat.

Sie sind Mitte der 1970er Jahre entstanden, nicht lange nach Erscheinen des Buches „Die Grenzen des Wachstums“. In dieser Zeit stellte Cage heraus, dass angesichts der Umweltprobleme, die sich die menschliche Zivilisation geschaffen hat, harte Arbeit notwendig, und auch keineswegs erfolglos sei. In dieser Zeit schrieb er Stücke, die enorm schwierig zu spielen sind, die Paul Zukofsky gewidmeten „Freeman Etudes“ für Violine (1977–90), die „Etudes Boreales“ (1978) für Violoncello und/oder Klavier und die „Etudes Australes“. Cage sagte darüber: „… ich habe ganz bewusst versucht, die Stücke so schwierig wie möglich zu gestalten, weil ich der Ansicht bin, dass wir in unserer Gesellschaft mit sehr ernsthaften Problemen konfrontiert sind. Wir neigen sogar dazu, die Situation als hoffnungslos zu bezeichnen“. Er wollte jedoch auf musikalischem Gebiet die Erfahrung ermöglichen, dass scheinbar Unmögliches letztlich doch möglich wird, sofern man nur hart genug daran arbeitet und will damit Mut machen, sich unserer scheinbar hoffnungslosen gesamtweltlichen Situation anzunehmen.
Vorlage für die Komposition waren Sternkarten, wie zuvor schon für das Orchester-Stück Atlas Eclipticalis (1961) und die Song Books (1970). Die Sterne vermittelten Cage eine Vorstellung vom Nirwana als etwas, das über unser Wollen und Nichtwollen und unsere Zu- und Abneigungen erhaben ist: Eine vollkommene Verkörperung des Ideals eines ungehinderten Einander Durchdringens.
In einem schematischen Prozess übertrug er diese „Punkte“ in Töne.
Wesentlich für eine anarchische Musik – analog zu einer anarchischen Gemeinschaft - ist also, dass sie nichts und niemanden ausschließt. Mit Hilfe von Methoden der Unbestimmtheit werden Strukturen geschaffen, in denen Klänge wie Menschen sich ohne Rücksicht auf ihre Eigenheiten einfinden können: So ist die Musik der Etudes Australes nicht auf Harmonie gebaut, sie schließt sie aber auch nicht aus.
Wenn ein Interpret sich fragen muss, was der Komponist mit einem Stück, oder einer musikalischen Geste „sagen“ will, wird er nach Cages Konzept von sich selbst getrennt, weil er sein Zentrum ein Stück weit aus sich selbst heraus in Richtung auf den Komponisten verlagert. (143). Wenn hingegen die Klänge nichts als freie Klänge sind, sind auch die Menschen, die sie erzeugen und die Menschen, die sie hören frei dazu, ihr Zentrum in sich selbst zu tragen. In einem Brief an Dieter Schnebel schrieb Cage, Ein guter Interpret sei der, der – genau wie Cage als Komponist – seine Tätigkeit als mentales Training begreift.
Das Stück ist ein Duo für zwei voneinander unabhängige Hände eines einzelnen Menschen, weil Cage die Erfahrung gemacht hat, dass Menschen innerhalb von Institutionen wie einem Orchester nicht aus ihrem eigenen Zentrum heraus schaffen können:
„Unsere Institutionen, nicht nur die musikalischen, sind für harte Arbeit nicht zu haben. Ihre Zeit ist bis auf die Sekunde gezählt und begrenzt. Das Ziel eines Einzelnen innerhalb einer Institution hat nichts zu tun mit der Arbeit, die getan werden muss oder mit dem Zustand seines Geistes, sondern nur mit der erwarteten Bezahlung“.
Einzelne Menschen hingegen, wie zum Beispiel auch Grete Sultan, der dieser Zyklus gewidmet ist, seien begeistert von der Idee, harte Arbeit auf sich zu nehmen.
Cage zitiert recht oft den Satz, mit dem Henry David Thoreau sein Essay „Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat“ beginnt: „Die beste Regierung ist die, die gar nicht regiert. … Und wenn die Menschen nur erst reif dafür sein werden, wird dies die Regierungsform sein, die sie haben werden“. Cages Ziel war es, dass Menschen über die Beschäftigung mit seiner Musik reif dazu würden, in einer Anarchie zu leben, weil sie in harter Arbeit erfahren haben, dass man völlig uneigennützig, mit Spaß an der Sache und effektiv zusammenarbeiten kann.

Niemand hat Sabine Liebner dazu gezwungen, diese Stücke auf sich zu nehmen. Sie hat von sich aus gesagt, das mach ich, das will ich schaffen und das halt ich durch.
Wenn jemand aus eigenem Antrieb etwas Gutes macht, an dem Andere Teil haben können, ist das jene Form der Anarchie, die Cage sich für den Rest des Lebens wünscht:
In anarchischen Aufführungssituationen hatte er die Erfahrung gemacht, dass sie sich positiv auf die Gefühle des Einzelnen auswirken: „Furcht, Schuld und Gier, die mit hierarchischen Gesellschaftsformen verbunden sind, weichen einem gegenseitigen Vertrauen, einem Sinn für das gemeinsame Wohlergehen und einem Bedürfnis, miteinander zu teilen, was der eine haben oder tun mag“, sagt er in „Empty Words“. An diese Erfahrung und seine Überzeugung, dass man Menschen am besten durch angenehme Erlebnisse ändern könne knüpfte er die Hoffnung, dass jeder Einzelne die gesamte Menschheit als seine Familie und die ganze Erde als sein Zuhause ansehen könnte, in dem er beim Aufräumen hilft.

Als er 1990 bei den Internationalen Ferienkurse für Neue Musik in Darmstadt zu Gast war, eröffnete er die Forumsdiskussion mit einem Vortrag über seine Sicht auf den Zustand der Welt: Während die Menschheit in Gefahr sei, ihre eigenen Lebensgrundlage zu zerstören, gebe es keinen Standpunkt, auf dem man mit Sicherheit beharren könnte und kein Ziel, das sich mit gutem Gewissen verfolgen ließe. Das Ganze sei völlig anders, als alles, was es bisher gegeben habe. Es gebe keine Erfolg versprechenden Konzepte.
Angesichts der Vielzahl von gleichermaßen anerkannten – oder auch gleichermaßen nicht anerkannten Ansichten davon, was getan werden müsse, ist jeder auf eignes Urteilsvermögen zurückgeworfen. Mit Marshall McLuhan und Buckminster Fuller räumt Cage dem gesunden Menschenverstand die höchste Autorität vor allen Konventionen ein. Durch die elektronischen Medien sei jeder Mensch befähigt, sich sein eigenes Bild vom Zustand der Welt zu machen und auch davon, an welchem Punkt er seine Kraft einsetzen könnte, um etwas zu ändern. Dabei sollte sich niemand einfach der Meinung eines anderen anschließen: Denn sobald sich eine einzige Ansicht darüber, wie man die bestehenden Probleme lösen sollte gesellschaftlich durchsetzt und durch den Rückhalt von öffentlichen Institutionen verstärkt wird besteht die Gefahr, dass eine falsche Entscheidung in ihrer Wirkung multipliziert wird und mehr schadet als nützt. Wenn hingegen jeder Mensch aus eigenem Zentrum heraus gemäß seinem eigenen Urteilsvermögen und natürlich einem hohen Verantwortungsbewusstsein heraus handelt, besteht Hoffnung, dass sich innerhalb der individuellen Meinungen darüber, was in der Welt getan werden müsse und was nicht eine Art ökologisches Gleichgewicht einstellen möge.

Ich danke Ihnen!





Literatur (Auswahl):

Besonders empfohlen:

John Cage: The Future of Music“ (1974/79). Abgedruckt in Ders.: Empty Words. Writings `73-`78. Middletown, Conn. 1979. S.177-187.


In den Fußnoten verwandte Abkürzungen:

JCS: John Cage: Silence. Lectures and Writings by John Cage. Middletown, Conn. 1961.
JCA: John Cage: A Year from Monday. New Lectures and Writings. Middletown, Conn. 1967.
JCE: John Cage: Empty Words. Writings `73-`78. Middletown, Conn. 1979.
JCM: John Cage: M. Writings `67-`72. Middletown, Conn. 1973.
JCX: John Cage: X. Writings `79-`82. Middletown, Conn. 1983.

JCG: „John Cage im Gespräch. Zu Musik, Kunst und geistigen Fragen unserer Zeit“. Hg. Von Richard Kostelanetz, Köln 1989.



Ferner:

Richard Kostelanetz: John Cage, Köln 1973.

John Cage: Silence. [Auswahl] Aus dem Amerikanischen übersetzt von Ernst Jandl. Frankfurt (Suhrkamp) 1987. 6. Auflage, 2007 [ISBN 978-3-518-22193-8].

Ananda Kentish COOMARASWAMY: The Transformation of Nature in Art (1934). NA: New Delhi (Munshiram) 1994. ISBN-10: 8121503256; ISBN-13: 978-8121503259.

Doris Kösterke: Kunst als Zeitkritik und Lebensmodell. Aspekte des musikalischen Denkens von John Cage (1912-1992). Regensburg (Roderer) 1996 (Zugl.: Mainz, Univ., Diss., 1995) [vergriffen].
 „Musik wozu?“ war der Titel eines Vortrags am 7.6.1969 und Titel einer Schriftensammlung, die Rainer Riehn herausgegeben hat.
 Vgl. u.a.: „… art is a sort of experimental station in which one tries out living“, „Lecture on Something“, 1954, JCS S.139; Kunst als „eine Art Labor, in dem man das Leben ausprobiert“ (Übersetzung Jandl); „Musik … , die mit dem Rest des Lebens nichts zu tun hat, interessiert mich schon lange nicht mehr. Rein musikalische Fragen sind keine ernsthaften Fragen mehr“ - “For many years I have noticed, that music – as an activity seperated from the rest of life – doesn’t enter my mind. Strictly musical questions are no longer serious questions”. (JCE 177).
An vieler ausdrücklich politischer Musik, Cage nennt Cornelius Cardew und sein Scratch Orchestra, kritisiert Cage, dass ihr ein Übermaß an theoretischen Konzepten vorangestellt würde. JCG 200; 145. Sein Aufsatz „The Future of Music“ (1974/79), der seinen 1979 herausgegebenen Sammelband beschließt (JCE, S. 177-187), ist eine der deutlichsten Formulierungen der Parallelen zwischen Musik und gesellschaftlicher Utopie.
 Sie wurde durch das 1972 vom Club of Rome veröffentlichte Buch „Die Grenzen des Wachstums“ bewusst.
 Vgl. u.a. „45’ for a Speaker“, 1954, 40”; JCS 158. Zur gleichen Zeit las sein Freund Earl Brown einen mittelalterlichen Text, in dem genau das gleiche stand. Wie nahe sich indische und mittelalterliche Kunsttheorie sind, schreibt auch Ananda Kentish Coomaraswamy in seinem Buch „The Transformation of Nature in Art“ (1934), das Cage ebenfalls häufig erwähnt.
 „Silence“ S. XI. Watts war ein Vorreiter der Fernost-Rezeption in der westlichen Welt und beeinflusste insbesondere in der Subkultur der 1960er Jahre. Er plädierte zum Beispiel für die Ansicht, dass Buddhismus weniger eine Religion sei als seine Form der  HYPERLINK "http://en.wikipedia.org/wiki/Psychotherapy" \o "Psychotherapy" Psychotherapie (Wikipedia). Cage hat oft formuliert, dass die Beschäftigung mit fernöstlichen Weisheitslehren bei ihm die Funktion einer Psychoanalyse eingenommen hätte.
 nach 1952, vgl. Martin Erdmann: Chronologisches Werkverzeichnis. Abgedruckt in: Heinz-Klaus Metzger, Rainer Riehn (Hrsg.): John Cage II (Musik-Konzepte Sonderband), 2. Auflage, München 2000, ISBN 3-88377-315-8; „für zwei Jahre“ (http://de.wikipedia.org/wiki/John_Cage).
 Alan Watts soll später den Einfluss des Zen-Buddhismus auf Cages Schaffen in Frage gestellt haben. Im Vorwort zu seiner 1961 erschienenen Schriftensammlung „Silence“ (S. XI) nimmt Cage dazu Stellung und schreibt, dass er Zen nicht für sein Tun verantwortlich machen wolle. Dass er aber ohne seine Beschäftigung damit niemals hätte tun können, was er getan habe. Er weist an dieser Stelle (Silence, XI) auch darauf hin, dass weder Dada noch Zen feste Größen sind, sondern Strömungen, die sich verändern.
 Vgl. u.a. Christof W. Hahn: Unzählige Zentren. John Cage und seine Ausstellung „Kunst als Grenzbeschreitung“ in München. In: die tageszeitung, 24.7.1991. Vgl. auch JCG S.52f.
 „My Ideas certainly started in the field of Music. And that field, so to speak, is child’s play. (We may have learned … in those idyllic days, things it behoves us now to recall.) Our proper work now if we love mankind and the world we live in is revolution”. JCA, S. IX; 16.Vgl. auch JCE 182;
 John Cage: Bericht 1966. Abgedruckt in: Richard Kostelanetz: John Cage, Köln 1973, S. 105.
 JCG S.24f.
 Vgl: John Cage: Preface to „Lecture on the Weather“. Abgedruckt in: JCE, S. 3-5.
 John Cage: Andere Völker denken (1927). Abgedruckt in: Richard Kostelanetz: John Cage, Köln 1973, S. 72-76; S.75.
 JCE Ss. 184 und 186.
 Vgl. Perloff, Marjorie, and Charles Junkerman. 1994. John Cage: Composed in America. Chicago: University of Chicago Press.  HYPERLINK "http://en.wikipedia.org/wiki/Special:BookSources/0226660567" ISBN 0-226-66056-7 (cloth)  HYPERLINK "http://en.wikipedia.org/wiki/Special:BookSources/0226660575" ISBN 0-226-66057-5 (pbk) S.140 [übersetzt nach http://en.wikipedia.org/wiki/Etudes_Australes].
 In diesem Falle dem Atlas Australis, Sternkarte des südlichen Sternhimmels, von Antonín Bečvář, den er 1964 in Prag kennengelernt hatte.
 ) “Die Idee vom Nirwana ist nicht etwas Negatives, sondern meint das ‘Auslöschen’ der Dinge, die die Erleuchtung verhindern“. JCG S. 48. Vgl. auch JCG S. 22.
 Dem Kompositionsprozess ging voraus, dass Cage einen Katalog mit Drei-, Vier- und Fünfklängen erstellte, die mit einer Hand ohne Hilfe der anderen spielbar sind.
Außerdem bestimmte er für jede Etüde, wie viele Sterne zu einem Aggregat zusammengefasst werden sollten. In der ersten Etude ist diese Frage durch eine einzelne Zahl beantwortet, in der zweiten durch zwei Zahlen, usw.. So dass die Etüden zunehmend mehr Aggregate enthalten. In der Ersten überwiegen Einzeltöne, in der 32. sind etwa die Hälfte der Klänge Mehrklänge.
Dann legte er einen knapp 2 cm breiten Transparentstreifen über die Karten. Seine Breite bestimmte die Auswahl, welche Sterne benutzt wurden. Innerhalb dieser Breite bestimmte Cage die Lage der Töne innerhalb einer Oktave (?). Über Zufallsentscheidungen mittels I-Ging übertrug er diese Töne in die verfügbaren Oktaven für die linke und rechte Hand. Die  resultierenden Noten entsprechen nur der horizontalen Lage der Sterne und nicht alle Sterne werden benutzt, weil die Sternkarten eine Vielzahl von Farben verwandten und Cage seine Auswahl jedes Mal auf bestimmte Farben beschränkte. Am Ende würde Cage eine Kette mit Noten haben und das I Ging fragen, welche von ihnen Einzelnote bleiben und welche Teil eines Aggregats werden sollte.
 Vgl. Kostelanetz, Richard. Conversing with John Cage. New York: Routledge 2003. ISBN 0-415-93792-2, S.91. – Nach http://en.wikipedia.org/wiki/Etudes_Australes.
 Vgl. John Cage: Unbestimmtheit (1958). In: Die Reihe, Nr.5 (1959), S. 116-21; S. 117. Vgl.auch Vorwort zu „A Year from Monday“, S. IX.
 Vgl. Dieter Schnebel: Disziplinierte Anarchie – Cages seltsame Konsequenzen aus der Lehre bei Schönberg. In: „Herausforderung Schönberg“, hg. Von Ulrich Dibelius, München 1974, S. 151-60; S. 158.
 JCE 184.
 „The Resistance to Civil Government“, 1849.
 JCE, S. 183.
 John Cage: Empty Words. Writings `73-`78. Middletown, Conn. 1979; S.18.
 „The Future of Music“ JCE, S. 186.
 JCE 182.
 Vgl. Hans Jonas: Das Prinzip Verantwortung (1979), deutsch Frankfurt/M. 1984, S. 7.
 Mit Cage ließe sich sagen, dass viele Probleme unserer Zeit gerade dadurch entstanden, dass man sein Augenmerk auf Bestimmtes fixiert hat, während scheinbar periphere Dinge unbemerkt zu gravierenden Problemen angewachsen. Zum Beispiel war es lange ein Ziel, mit immer weniger Aufwand immer mehr Annehmlichkeiten zu genießen, etwa, indem man Autos immer funktionstüchtiger und billiger machte. Erst später merkte man, dass ihre Abgase zum Problem werden.

 

About Cage – i-camp, München, 30.9.2012 - Doris Kösterke: Cages Musik als Lebenshilfe





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Doris Kösterke

Über den Komponisten Antoine Beuger


Klänge schwingen sich ein und verschwinden in eine Stille. Die Stille im Schatten eines verschwundenen Klanges klingt anders, als wenn dieser Klang nicht dagewesen wäre. Das musikalische Umspielen von Stille interessierte den 1955 im niederländischen Oosterhout geborenen Antoine Beuger schon, als er noch zur Schule ging. Zu diesem Spiel gehörte für ihn schon zu Beginn der siebziger Jahre das Kraftfeld, das im Raum spürbar wird, wenn mehrere Menschen ihre Erwartungen auf etwas fokussieren.

Nach dem Abitur studierte Antoine Beuger Komposition bei Ton de Leeuw am Sweelinck Conservatorium Amsterdam und rieb sich so lange an dem Primat kompositorischer Handwerklichkeit, bis er nicht mehr wusste, was er künstlerisch eigentlich wollte. Nach Abschluss seines Studiums hatte er denn auch keine Lust mehr, sich überhaupt noch mit Musik zu beschäftigen: "Ich kam mir vor wie ein verklemmter Intellektueller, der lauter komplizierte Sachen schreibt, die keine Vitalität haben und fürchtete: wenn ich so weiterkomponiere, werde ich immer noch verstockter".

Einen Ausweg erhoffte er sich von dem radikal kommunistischen Experiment einer internationalen Kommune. Dort bestand der Anspruch, private Empfindungen ebenso allgemein zugänglich zu machen wie Sacheigentum und private Beziehungen: "In der Kommune bestand das Gebot, jederzeit spontan und expressiv zu sein und auf jede expressive Aktion eine expressive Antwort folgen zu lassen", sagt Beuger und lacht: "Auf die Dauer wurde das natürlich ausgesprochen langweilig".

Im allgemeinen Tauwetter von 1989/90 begegnete ihm dann seine heutige Frau. Zusammen verließen sie die bröckelnde Kommune, begannen in Düsseldorf ein neues Leben und Beuger fing wieder an, zu komponieren. Anders als zu Hochschulzeiten schuf er darin einfach jene Situationen, nach denen er sich am dringlichsten sehnte: Zeiträume zum genauen Hinhören und Zuhören; klangliche Ereignisse, die die Aufmerksamkeit aus den Sümpfen innerer Befindlichkeiten herausziehen; Zustände, in denen man sich die Zeit gibt, die Eindrücke in sich nachwirken zu lassen; - und jenseits des Extrovertierten und Expressiven entstand eine bebende Intensität und Vitalität.

Beuger wunderte sich selbst über die große intuitive Sicherheit, die er bei seinem Rückgriff auf seine jugendliche Visionen verspürte und fast noch mehr über den äußeren Erfolg: 1990 beim Ensemblia-Kompositionswettbewerb der Stadt Mönchengladbach, 1991 beim Internationalen Kompositionsseminar Boswil, 1992 beim Forum junger Komponisten des WDR Köln. Für die Donaueschinger Musiktage 1995 erhielt er einen Kompositionsauftrag vom Südwestfunk, und zwei Jahre später wurde in Donaueschingen sein Orchesterstück fourth music for marcia hafif (3) uraufgeführt. Beim 6th International Kazimierz Serocki Composers Competion, 1998 in Warschau, bekam er den zweiten Preis.

"Menschen, die meine Musik gehört haben, sagen mir immer wieder, dass sie sich darin verstanden fühlen", sagt Beuger. Das mag daran liegen, dass seine Klang-Kunstwerke ganz bewusst aus sich herausweisen: Im Mittelpunkt von Beugers künstlerischem Interesse steht, was seine Aktionen in denen auslösen, die sich mit ihnen beschäftigen.

Der Theoretiker und Komponist, der Beuger in diesem Konzept schon in früher Zeit und später immer wieder am nachhaltigsten beeindruckt und inspiriert hat, war John Cage (1912-1992). "Dabei wollte ich Cage natürlich niemals nachmachen. Aber mir war klar: je mehr ich versuche, mich von ihm abzusetzen, um so mehr werde ich ihn unbewusst imitieren. Wenn ich jedoch versuche, seine Verfahren so genau wie möglich nachzuschaffen, dann werde ich merken, was der Unterschied ist zwischen mir und Cage".

Dieser Gedankengang: Gleiches in den Raum zu stellen, um die Abweichungen zu finden, die Reibung scheinbar gleicher Phänomene aneinander als Schlüssel zum Auffächern der Verschiedenheiten zu benutzen, ist symptomatisch für Antoine Beugers Musik: Mit äußerst reduzierten Mitteln schafft er einen präzis definierten, meist ungewohnten Hörwinkel - "und darin ereignet sich möglicherweise sehr, sehr viel", sagt Beuger. "Aber das spielt sich dann in einem selber ab. Es ist mehr eine innere Intensität als eine äußere".

Eine Serie von Solostücken, deren Aufführungsdauer zwischen 45 Minuten und neun Stunden betragen kann, besteht aus dem Wechsel zwischen drei Sekunden Klang und drei Sekunden Stille, wobei die konkreten Klänge durch ein Zufallsverfahren aus einer Gesamtmenge zuvor bestimmter Klänge ausgewählt werden. Später schrieb Beuger Stücke, deren Partitur oft nur aus einem einzigen Satz bestehen, wie: "ein ton. eher kurz. sehr leise. die beiden ausführenden haben abwechselnd 10 minuten zeit. in ihrer jeweiligen zeit spielen sie einmal den ton oder bleiben still. das stück dauert mehrere stunden".

"In meiner Musik gehe ich eigentlich subtraktiv vor", sagt Beuger, "und mittlerweile bin ich der Überzeugung, dass dieser Vorgang des Wegnehmens nie ein Ende nehmen wird. Man findet nirgends Elemente, aus denen sich alles zusammensetzt, und die man nicht mehr teilen kann, sondern dieser Prozess des Wegnehmens ist im Prinzip unendlich - nach jedem neuen Wegnehmen tut sich wieder eine ganz neue Welt auf. Ich merke das daran, dass für mich die Stille in den jetzigen Stücken ganz anders klingt als die Stille in früheren Stücken".

"Wenn ich in ein Konzert gegangen bin, hat mich schon immer der Moment interessiert, wenn ein Stück aus ist und im besten Fall nicht gleich geklatscht wird. Und es ist mein großes Interesse, das, was sich normalerweise außerhalb eines Stückes ereignet, in die Musik hineinzuholen", sagt Beuger. Und so ist es, als würde er seine Stücke aus lauter Enden zusammensetzen - aus Zeiten der Stille im Schatten verschwundener Klänge, die im inneren Raum des Hörers weiterwirken.



11.03.1999


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Doris Kösterke

Neunstündige Insel

 
 
Der Kölner Künstler Mauser hat die 521 Strophen der "Lieder der Nonnen aus dem Garten Gautamo Buddhos", eines buddhistischen Textes aus dem Pali-Kanon, in kalligraphischen Lettern auf 11 schwere Büttenbögen im Format 1,30 mal 2,30 geschrieben - und ausradiert.

Das Ausradieren war für Mauser nur zu konsequent. Denn das Abschreiben, so sagte er, sei für ihn eine intensive Form der Auseinandersetzung mit dem Textinhalt gewesen. Der vermittelte ihm den Wert des Schweigens. Deshalb sollten auch die Bilder schweigen. - "Das Ausradieren war mindestens genau so viel Arbeit, wie das Schreiben", sagte Mauser.

Die Leere, die Stille als Produkt einer aufwendigen Leistung zu begreifen war ein Schlüssel, um auch mit der mehr als neun Stunden füllenden Komposition von Antoine Beuger etwas anfangen zu können, die in Mausers Atelier vor den ausradierten Büttenbögen aufgeführt wurde. Beugers aus dem garten ist Mauser gewidmet und bezieht sich auf dessen Werk.

Der Notentext zu diesem Stück "für zwei ausführende" umfaßt nur 6 Textzeilen:
"ein ton. / eher kurz. / sehr leise. / die beiden ausführenden haben abwechselnd
10 minuten zeit. / in ihrer jeweiligen zeit spielen sie einmal den ton oder bleiben still. / das stück dauert mehrere stunden".

Die Uraufführung besorgten die holländische Sängerin Patricia van Oosten und Beuger selbst mit der Flöte.

Der Anfang des Stückes lag im Unklaren: Antoine Beuger saß schon eine ganze Weile auf seinem Stuhl, als die Tür zum Atelier geschlossen wurde. Patricia van Oosten kam nach, verglich ihre Stoppuhr mit Beugers und setzte sich auf ihren Platz. Keine dieser Handlungen gab Auskunft darüber, ob das Stück damit nun begonnen hätte, oder nicht. Aber die Atmosphäre begann sich zu verdichten: Im Bewußtsein, daß da etwas geschah, das man Gefahr lief zu stören, schlossen Hinzukommende leise die Tür hinter sich und schlichen auf Zehenspitzen zu einem freien Platz. Verkehrsgeräusche, unglaubwürdig laut lachende Menschen im Garten vor dem Atelier - die Tür war zu, und damit fühlte man sich alledem vorübergehend enthoben. Schopenhauer schien zu grüßen, und natürlich John Cage, der Beuger über weite Strecken seines Lebens immer wieder am nachhaltigsten beeindruckt hat.

An der Grenze der Hörbarkeit erschien ein Ton von Antoine Beuger. Geschärft durch die feinen, völlig unregelmäßigen Schwingungen dieses Flötentons widmete sich die Aufmerksamkeit umso stärker den Lauten der Stille. Der Abstand zum Alltag vergrößerte sich zusehends und die Augen lustwandelten über die schweren Büttenbögen aus Mausers Arbeit an den Wänden: hier und da war noch ein Stückchen Wachsstift übriggeblieben. Vertiefungen im Papier zeugten von der Kraft, mit denen es einmal beschrieben worden war.



Anlaß, sich hier eingefunden zu haben, war, daß zwei Leute etwas taten. Aber dennoch kamen Patricia van Oostens Kopftöne immer wieder unerwartet, wie unwirklich, und dabei mit so reicher Körperresonanz, so rund, so weich, so luftig, daß man sich schon auf den nächsten freute.

Das Abenteuer des Stillseins konnte man zu jeder Zeit unterbrechen, wärend das Stück seinen weiteren Verlauf nahm. Der Verlockungen dazu waren viele: das schöne Wetter draußen, die in der Laube aufgestellten Speisen und Getränke und vor allem die Neugier, wer die anderen Menschen waren, die sich zu dieser in landläufigem Sinne doch recht ausgefallenen Form der Freizeitgestaltung hier eingefunden hatten. Eine Zeit lang wirkte die heiter gelassene Aufmerksamkeit wie ein aus Energiefäden gesponnenes Netz. Aber nach etwa 5 1/2 Stunden begann die Frage, ob Beuger hier nicht einfach nur um des Auf-Die-Spitze-Treibens willen etwas auf die Spitze trieb, doch unerträglich zu drängeln.

Für ihn sei immer besonders interessant, wie ein Stück aufhört, hatte Antoine Beuger einmal gesagt, und etwa zwanzig Minuten vor dem erwarteten Schluß der Aufführung steigerte sich die Aufmerksamkeit der Zuhörer zu einer ungeahnten Intensität. Ob die beiden Ausführenden ihren Ton von sich geben würden, oder nicht, wann er kommen und wie er sich gestalten würde, war den ganzen Tag über eine spannende Frage geblieben. Nun widmete man sich ihr wie einem seltenen Besucher, der in wenigen Minuten abreisen würde. Eine besondere Delikatesse war, daß niemand recht wußte, wie lange genau das Stück gehen würde. Die Zusammengekommenen verharrten jedoch auch dann noch für etwa zwanzig Minuten im Schweigen, als das Stück ganz eindeutig zuende war.

Ein Stück Wahrnehmungs- und Bewußtseinskunst - zweifellos. Aber wie steht es mit den handwerklichen Aspekten dieser Komposition? - "Die Komposition ist eine Konsequenz aus meiner Arbeit der letzten acht Jahre", sagte der 1955 in den Niederlanden geborene Komponist. - "Was ich eigentlich schon immer wollte, war auf der einen Seite viel Stille, und auf der anderen Seite eine große Variationsbreite innerhalb der Klangereignisse", sagte er. "Vor etwa vier Jahren habe ich noch, aufgefächert nach möglichst vielen Merkmalen, genau angegeben, wie welcher Ton klingen soll. Aber dann habe ich gemerkt, daß ich mir um die Verschiedenheit der Klänge keine Gedanken machen muß, wenn ich die Situation präzis genug festlege, aus der heraus sie entstehen. Einerseits schaffe ich ein gleichbleibendes Raster, auf dem die Verschiedenheiten als solche erfahrbar werden", sagte Antoine Beuger. "Und andererseits formuliere ich die Bedingungen so, daß das herauskommt, was ich hören möchte. Zum Beispiel steht da die Formulierung 'eher kurz', weil die Singstimme einige Zeit braucht, um ihren Ton leben zu lassen. Bei der Flöte ist es anders. Da erreicht man die größtmögliche Verschiedenheit der Klänge, wenn man nicht recht im Spiel drin ist". Was ihm das Wichtigste gewesen wäre? - "Daß ich für neun Stunden meine Ruhe hatte. Ich war wie auf einer Insel". - Auf einer neunstündigen Insel im reißenden Strom des Gelebtwerdens.



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Doris Kösterke:

Starke stille Gäste -
Aus der Umgebung von John Cage

(Leicht gekürzt erschienen in der Frankfurter Rundschau Nr. 124, Pfingsten 1998, S. M 13)


Musikkritikerohren sind manchmal wegen Überfüllung geschlossen. Dann erfährt der dazugehörende Mensch sich selbst als brüllende Revolte gegen alle mit Gedankenschmalz polierten musikalischen Bastelarbeiten, alle netten koketten Stückchen und alle in Herzblut gesottenen Äußerungen komplizierter Seelen, die unschuldig danach winseln, verstanden und gewürdigt zu werden. In einer solchen Situation begegneten mir die ersten acht CDs der Edition Wandelweiser. Sie erzählten mir keine dramatischen Geschichten. Sie waren einfach da, ruhten in sich selbst und schenkten damit auch mir die Freiheit, endlich einmal bei mir zu sein. In dieser Sparte des nicht-gewinnorientierten Berliner Unternehmens Timescraper Music haben sich wesensverwandte Komponisten zusammengefunden, die neben eigenen Werken auch denen ihrer geistigen Vorfahren Gehör verschaffen: Cage, Lucier und Wolff.



Die Serie beginnt mit einer vom Akkordeonisten Edwin Alexander Buchholz eingespielten Doppel-CD. Das erste Stück ist die Cheap Imitation (1969) von John Cage (1912-1992), eine im wesentlichen einstimmige Komposition, die Cage mittels Zufallsverfahren aus der Singstimme des Socrate von Erik Satie abgeleitet hat. Dieses Stück öffnet eine Dimension, die über die Musik hinausweist. Nicht mit einem konventionellen Herangehen an Musik läßt sie sich nicht greifen, am allerwenigsten vom musikalisch-Handwerklichen her. Kompositionstechnisch mag nun wirklich manch einer behaupten: "das kann ich auch". Aber darauf kommt es hier nicht an. So schreibt Edwin Alexander Buchholz: "Ich merke, daß es mir gut tut, diese Musik zu spielen, da sie mir die Möglichkeit gibt, in mich hineinzuhören und gleichzeitig die Klänge meines Instrumentes und die der Umwelt intensiver wahrzunehmen". - Nicht das Was? des vermittelten Stückes, sondern das Wie? des Wahrnehmens wird zum Gegenstand der künstlerischen Arbeit.

In Here 2 (1996) des 1961 geborenen Amerikaners Michael Pisaro verschmelzen Akkordeon und Flöte zu einem Klang. "Das eine Instrument setzt irgendwann im Klang des anderen etwas in Bewegung. Wann genau das passiert, ist nicht wahrnehmbar: wenn man es wahrnimmt, ist die Bewegung schon da" kommentiert Antoine Beuger die Intensität des Hier und Jetzt. Ein ausgesprochen schönes Stück ist das darauf folgende Sam Lazaro Bros (1984/90) des 1953 geborenen Schweizers Jürg Frey. Rhythmisch wenig differenziert ist diese Aufnahme ein ruhiges Akkordeon-Atmen in Mollklängen, das kein Ziel hat außer sich selbst. Die Klänge sind, und irgendwann sind sie nicht mehr. Das ist der Moment, wo man als Zuhörer innerlich Amok läuft, weil man mit jeder Faser seines Körpers diese Klänge zurücksehnt. Es spricht für die dramaturgische Klugheit und Sensibilität der Produzenten, daß diese CD mit diesem Stück aufhört, und nicht mitten im Aufruhr ein neues beginnen läßt.



Die knapp 64 Minuten der zweiten CD füllt die geschichte des sandkorns (1992) des 1955 geborenen Antoine Beuger. Stark vom Vorbild Cage geprägt, verwendet die Komposition alle Sorten von Klängen, die auf dem Akkordeon entstehen können. Weil auch die mit dem Ein- und Ausschalten von Registern verbundenen Geräusche als selbständige musikalische Elemente behandelt werden, ist für den Solisten selbst nicht vorhersehbar, wie der nächste konventionell gespielte Ton klingen wird. Wem es gelingt, in dichten, bisweilen mechanistisch anmutenden Phasen dieses Werkes seine innere Ruhe zu bewahren, schafft es auch in Gegenwart eines Zappelphilipps.

Denn Stille ist bekanntlich ein eher hörpsychologisches als ein akustisches Phänomen. - "Wird Stille erst durch ihre Unvollkommenheit natürlich?" fragt sich auch Toningenieur Peter Hecker. Immer wieder nimmt er in den Booklets zu tontechnischen Besonderheiten der jeweiligen Aufnahmen Stellung und fügt damit dieser Serie eine ausgesprochen audiophile Dimension bei.

 

Auch die pastellfarbenen Arbeiten der über siebzigjährigen schweizer Künstlerin Ida Maibach auf den Titelblättern der Booklets sind Einladungen von Nuancen an die Wahrnehmung. - Im Zentrum der meisten Bilder findet sich ein Quadrat: "Mein Zufluchtsort? Mein innerer Raum?" fragt die Künstlerin sich selbst im rhythmischen Prozeß des Malens.

 

Die dritte CD, Musica Brasileira De(s)composta von Silvia Ocougne und Chico Mello unterscheidet sich schon von der optischen Gestaltung her von den anderen der Serie. Den beiden in Berlin lebenden brasilianischen Multi-Instrumentalisten liegt die südamerikanische Folklore ebenso im Blut wie die Lust am Experimentieren. Ein temperamentvolles Rasgueado wird von einem Schrubbeln davongetragen. Ein virtuoses Simultanspiel erfolgt auf gegeneinander verstimmten Gitarren. Ein Romanzen-Duo eskaliert zum Duell, und unter den Flügeln spielerischer Daseinsfreude wird man den Verdacht nicht los, daß die beiden da etwas machen, von dem sich ihnen selbst vielleicht Jahrzehnte später eine minigruppendynamische Bedeutung erschlieáen mag.



Die vierte CD birgt das radikalste Werk der Serie: Stones von Christian Wolff (aus Prose Collection, 1968-74). Die Partitur zu diesem allein aus Geräuschen von Steinen zu schaffenden Stück besteht aus wenigen Textzeilen, die der Interpretation festumrissene Spielräume geben. Sieben Komponisten des Wandelweiser Komponisten Ensembles, Antoine Beuger, Jürg Frey, Chico Mello, Michael Pisaro, Burkhard Schlothauer, Kunsu Shim und Thomas Stiegler, vereinbarten eine Gesamtlänge von etwa 70 Minuten, in denen jeder 10-20 Ereignisse gestalten sollte. Manche der Komponisten machten sich dafür einen genauen Zeitplan, andere gaben sich Regeln wie "Ereignis E tritt ein, wenn zwei Mitspieler gleichzeitig einen Klang machen" (unter Umständen also gar nicht). Für den Hörer läßt sich nur dann und wann ein leises Steingeräusch vernehmen, als wollte es sagen "Ich bin da, aber laß dich durch mich nicht stören". Doch diese zarten klingenden Gäste sind viel zu faszinierend, als daß man sie ignorieren wollte. Ihre filigrane Vielschichtigkeit bewirkt, daá man seine allersensibelsten Antennen ausfährt. So schaffen diese stillen Gäste ein enormes Kraftfeld, eine Atmosphäre der Aufmerksamkeit und Behutsamkeit, die die Dauer ihres Besuchs aus jeder Unverbindlichkeit heraushebt.

 

Die fünfte CD ist drei Kompositionen des in Zürich lebenden Komponisten, Improvisators und Musikjournalisten Alfred Zimmerlin gewidmet. Auf konzeptionell nicht unvertraute Weisen thematisiert er die gegensätzlichen Bereiche des improvisierenden Musikers und des vorschreibenden Komponisten. Darüber hinaus spielt er, besonders im Klavierstück 5, mit (tonalen) Hörgewohnheiten, Hörerfahrungen und Hörerwartungen. - Nichts für Leute, die diese Erwartungshaltungen nicht kultivieren.

 

Die von dem vielversprechenden, 1968 geborenen Violinisten Clemens Merkel eingespielte sechste CD verbindet die sich durch Pausen tastenden Gänsehautanflüge der unwritten page von Antoine Beuger mit der gewaltig expressiven Sonate für Violine Solo op.14 von Wolfgang von Schweinitz, das Piece pour Ivry von Bruno Maderna (das für meine überreizten Musikkritikerinnenohren noch immer nicht leicht und tänzerisch genug klingt) und den Kammerkomplex von Thomas Stiegler, in dem sich die Weiten violinistischer Klanglandschaften zu etwas verdichten, das im Kontext dieser Serie wie Neue-Musik-Standardsound wirkt. - "Ich bin ein Freund der Kontraste, der Vielfalt, des Nebeneinanders verschiedener Erscheinungsformen", schrieb Clemens Merkel über sich. Die bei den Aufnahmen anwesenden Komponisten und der Tonmeister plädierten einhellig dafür, die Verschiedenheiten eher noch durch verschiedene Aufführungsorte und Mikrophonierungen zu unterstreichen. Hierin zeigt sich das Label in einer Offenheit, die einfach toll ist.

 

Die letzten beiden CDs wurden von dem schweizer Klarinettisten Jürg Frey eingespielt. Die dialogues (silences) von Antoine Beuger sind fast tonlos. Dann und wann huscht ein Melodiefragment durch die Stille, als fürchte es, sie zu verdrängen und weist gerade dadurch umso stärker auf sie hin. Das Zusammensein mit diesen Klängen habe ich besonders dann genossen, wenn es um mich herum alles andere als ruhig war. Es vermittelte mir eine so unerschütterliche Ruhe, als wüchsen mir Wurzeln bis zum Mittelpunkt der Erde. Im Vergleich dazu beginnt Music for One (1984) von John Cage geradezu zupackend. Aber die zentrale ästhetische Aussage ist laut Antoine Beuger in beiden dieselbe: "Gleichmut".

 

Spiele mit den Eigengesetzlichkeiten der Wahrnehmung stehen bei den Wandelweiser-Komponisten immer wieder zur künstlerischen Debatte, besonders aber in der letzten CD: In In Memoriam Jon Higgins (1987) von Alvin Lucier scheinen die Schwebungen zwischen dem konstanten Klarinettenton und dem sich graduell aufwärtsbewegenden Sinuston schneller zu werden, wenn die Töne sich einander annähern, und langsamer, wenn sie sich voneinander entfernen. Drei Stücke von Christian Wolff untermauern seine These, daß alles, was man im festgefügten Nacheinander arrangiert, Töne, Geräusche, Gesten, sich letztlich zu einer Melodie verbindet. Burkhard Schlothauers Stück aus atem für Baßklarinette ist eine 22 Minuten und 22 Sekunden dauernde Ausstellung von Fundstücken aus den Grenzgebieten zwischen (Atem-)Geräusch und Klang. Jedem mehr oder weniger ausgedehntem Exponat ist ein Zeitraum zuerkannt, in dessen Vorher und Nachher das jeweilige Klangereignis seine Resonanz im Zuhörer entfalten kann. In der Interpretation von Jürg Frey ist dieses Stück weit mehr als nur ein akustisches Museum. Es ist wie eine sehr persönliche poetische Darstellung, und manchmal auch nur ein leises Erbebenlassen der Haut.

Mit in unregelmäßigen Abständen sich abwärts tastenden Tonfolgen beginnt Mit Schweigen wird's gesprochen für Bassklarinette von Jürg Frey, das er selbst eingespielt hat. Manchmal halten sie wie fragend inne und scheinen in die sich anschließende Stille zu lauschen. Manchmal formieren sich melodiöse Floskeln, die an Hornquinten erinnern können, oder sehr vage an die eine oder andere alpenländische Volksweise. Das alles geschieht ohne jede Penetranz, wie aus weiter Entfernung oder ferner Erinnerung. Über Zirkularatmungsklängen breiten sich ganze Obertonlandschaften aus. Gegen Ende des Stückes scheint sein Anfang noch einmal aufs zarteste aufzuleben. Und wenn das Stück zuende ist, klingt es noch lange nach.

 

Edwin Alexander Buchholz, accordeon; Normisa Pereira da Silva, flute. Cage . Pisaro . Frey . Beuger. EWR 9601/2.

Musica Brasileira De(s)composta. Silvia Ocougne & Chico Mello. EWR 9603.

Christian Wolff,Wandelweiser Komponisten Ensemble: Stones. EWR 9604.

Alfred Zimmerlin. Dünki . Frey . Aeschbacher . Capt . Hefti . Moster. EWR 9605.

Maderna . Beuger . von Schweinitz . Stiegler. Clemens Merkel, violin. EWR 9606.

Beuger . Cage. Jürg Frey, clarinet. EWR 9607.

Lucier . Wolff . Schlothauer . Frey. Jürg Frey, clarinet/bass clarinet. EWR 9608.


 
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Manuskript für SWR 2 - Musik Spezial - JetztMusik, 5.7.99  
Eine Sendung von Doris Kösterke

"... die ich dringend brauche ..."
Musik- und Lebensart der Wandelweiser

 
[Klangbeispiel -
Antoine Beuger: unwritten page. Clemens Merkel, Violine. CD EWR 9606 LC 2174.].

 
[O-Ton Antoine Beuger in einem sehr leisen Gespräch mit D.K]


ANTOINE BEUGER. "... eine ganz wesentliche Eigenschaft des Klanges ist, daß er verschwindet. Und das ist auch die Eigenschaft des Klanges, die mich eigentlich immer am meisten beeindruckt hat: daß ein Klang im Klingen verschwindet.

[Klangbeispiel].

ANTOINE BEUGER: ... Also bei mir liegt [...] die Hauptaufmerksamkeit nicht so sehr auf das, was passiert während des Lebens des Klanges, sondern was passiert wenn der Klang aufhört. Also das kann ich daran festmachen, daß die meisten Klänge in meinen Stücken kurz sind. Das heißt, man hat gar nicht so viel Zeit zu verfolgen, was alles passiert [...] während der Klang klingt, weil: dann ist er schon weg. Es ist sehr selten, daß Klänge vorkommen in meiner Musik, die länger sind als, ein paar Sekunden [Pause]

DORIS KÖSTERKE: Das klingt so, als wäre für dich das Verschwinden des Tones schöner als sein Dasein.
ANTOINE BEUGER: [lacht: hähä!] Ja, irgendwie fällt das zusammen. [...].
Das entscheidende Erlebnis des Hörens ist ja, [...] daß ich gerade etwas gehört habe. Also wenn man etwas hört, dann hat man es eigentlich gerade gehört. Und gewissermaßen besteht das Leben eines Klanges darin, zu verschwinden, dagewesen zu sein -
doris kösterke: - und der Reiz der Musik im Sich-Erinnern an das, was gerade geklungen hat?
ANTOINE BEUGER: Ja, erstens, und zweitens sich mit der Welt zu beschäftigen, also von daraus sich mit allem, was da ist und was natürlich um einen herum immer klingt, zu beschäftigen aus der Perspektive des eben erfahrenen [...] Klanges heraus". "es ... ändert ... auch, wie man alles sonst erlebt. [...] Auf einmal sehen die Bäume anders aus und [...] ja, es ist anders, an einem Tisch zu sitzen und ein Buch zu lesen. [...]
doris kösterke: Das war ja auch immer das, was mich an Eurer Musik so beeindruckt hat; daß die Menschen anders miteinander umgehen, nachdem sie sie gehört haben. Also: Man würde nicht ... Es würden nicht alle durcheinanderreden in der Kneipe.
ANTOINE BEUGER: Aha? Ja. Kann ich eigentlich nur bestätigen [...].
doris kösterke: Ist das bei dir auch beabsichtigt: so 'ne Art missionarisches Gegenübertreten?
ANTOINE BEUGER: [Pause] ... schwierige Frage.
doris kösterke: Oder etwas Selbstmissionarisches: daß du in deiner Musik etwas macht, das du einfach selber gut gebrauchen kannst?
ANTOINE BEUGER: Das auf jeden Fall, ja. Das ... - In der Musik schaffe ich natürlich Situationen, die ich sonst nicht finde. Und die ich - die ich dringend brauche - [Pause]. Und - ich gehe dann mal davon aus, daß es mit mir noch ein paar Leute gibt, die vielleicht eine Sehnsucht nach solchen Situationen haben. Und wenn die sich finden, dann [lacht:] dann trifft sich das!".

 

Wandelweiser insgesamt

Der niederländische Komponist Antoine Beuger, mit dem ich dieses Gespräch geführt habe, - und aus dessen Komposition "unwritten page" die Eingangsklänge zu dieser Sendung stammten, - ist der menschliche Mittelpunkt einer Gruppe von derzeit elf Komponisten im Alter von anfang Dreißig bis mitte Fünfzig, deren Musik in der "Edition Wandelweiser" in Berlin verlegt wird. Diese Sparte innerhalb des "nicht-gewinnorientierten" Musikunternehmens timescraper music wurde 1992 von Burkhard Schlothauer in Zusammenarbeit mit Antoine Beuger gegründet, um dieser doch recht ausgefallenen Klang-Kunst ein Forum zu schaffen.

 
Was diese elf Komponisten darüber hinaus miteinander verbindet, ist nicht so ohne weiteres greifbar.


Einer von ihnen, der in Essen lebende Kunsu Shim, formuliert die Gemeinsamkeiten äußerst vorsichtig, um die Individualität jeder einzelnen Komponistenpersönlichkeit innerhalb dieser Gruppe zu unterstreichen:

"ich persönlich vermute, daß die gemeinsamkeit von den "wandelweiser-verlags-komponisten" ist, daß wir alle mehr oder weniger die [...] eurozentrale - chromatisch und seriell orientierte - neue musik einfach "alt" und nicht "neu" empfinden".

Und der schweizer Komponist Jürg Frey schrieb über die "Wandelweiser":

"Ich sehe uns alle als Einzelgänger, aber zu meiner Freude, und zu meinem Erstaunen, können diese Einzelgänger oft sehr substanzreich, und auf den verschiedensten Ebenen, untereinander in Beziehung treten".
"So gibt es viele intensive Gespräche, aber die treffendsten Äusserungen zu dem Werk eines Kollegen passieren doch in den neuen Stücken, die (oft in tiefen Schichten, die an der Oberfläche nicht sofort wahrnehmbar sind) einen Dialog untereinander führen".

Es folgt ein Ausschnitt aus Jürg Freys knapp siebzehnminütiger Komposition "Mit Schweigens wirds gesprochen" für Baßklarinette, die er selbst spielt.

 

[Jürg Frey: "Mit Schweigens wirds gesprochen" 11'00" bis 13'17"]

 

Mir, als Außenstehende, scheint für die meisten der "Wandelweiser" typisch zu sein, daß sie im Wesentlichen von der bildenden Kunst, von Literatur, Performance, Video-Kunst oder Philosophie inspiriert sind, und traditionell musikalische Aspekte eher mittelbar einfließen lassen.
Manche berufen sich explizit auf John Cage, manche nehmen für sich in Anspruch, über ihn hinauszugehen.
Um den Ansatz ihrer kompositorischen Arbeit zu veranschaulichen, stellen sie immer wieder Bezüge zu Meister Eckhart her, oder zur chinesischen Ästhetik, oder zu Gilles Deleuze's Buch Différence et répétition.
Oder sie sprechen von bildenden Künstlern:
Von der amerikanischen Malerin Marcia Hafif beispielsweise, deren monochrome Bilder die Farbe selbst thematisieren. Oder von der schweizer Künstlerin Ida Maibach, deren regelmäßige Strichmuster auf das differenzierte Spiel der Variationen innerhalb des scheinbar Gleichförmigen verweisen.
Oder sie sprechen von dem Kölner Künstler Mauser: eines seiner Projekte im vergangenen Jahr bestand darin, die 521 Strophen eines buddhistischen Textes aus dem Pali-Kanon in kalligraphischen Lettern auf schwere Büttenbögen zu schreiben - und auszuradieren. Denn das Abschreiben war für Mauser eine intensive Form der Auseinandersetzung mit dem Textinhalt gewesen. Der hatte ihm den Wert des Schweigens vermittelt. Also sollten auch die Bilder schweigen.

Wie Mauser in diesen Bildern, so thematisieren auch die Wandelweiser die aktive Leistung des Schweigens und den Begriff der Stille. Kunsu Shim berichtete von einem öffentlichen Gespräch über den Begriff "Stille" (Teilnehmer waren Mauser, Antoine Beuger und er selbst), in dem sie sich auf keinen gemeinsamen Nenner hatten einigen können.

Der in Berlin lebende Burkhard Schlothauer schreibt:

Stille ist "ein ... im akustischen Sinne auf unserem Planeten nicht wirklich existierendes Phänomen. Vielleicht ist eher Ereignisarmut gemeint (wenn ich aufs Land fahre finde ich dort "Stille", geringere Dichte von Energien, von Körpern, die sich bewegen, Druckwellen produzieren)".

Und als Jerôme Noetinger den in Wien lebenden Radu Malfatti fragte, wie er denn die Pausen in seine Kompositionen brächte, schrieb er:

"früher mit tippex und radiergummi, jetzt mit der taste"delete". ich habe mich immer wieder ertappt, bei der überprüfung einer meist fertigen partitur elemente darin zu finden, die ich selber als sehr fragwürdig, bisweilen störend empfand. diese habe ich dann meistens einfach ausradiert, um sie durch nichts anderes zu ersetzen. dadurch bekam ich eine ruhe in die stücke, die ich insgeheim immer schon wollte, aber nicht von vornherein fähig war - oder nicht den mut hatte - , zu realisieren".

Der schweizer Komponist Jürg Frey unterscheidet zwischen "Stille" und "Pausen": Stille könne auch da sein, wo Klänge sind. Und mit den Pausen in seiner Musik verhalte es sich so, als würde man bei etwas, das man normalerweise mit vier Schrauben befestigen würde, mit zwei Schrauben auskommen - wobei die zwei Schrauben möglichst noch besser halten sollen, als die ursprünglichen vier. - Ähnlich vielleicht, wie eine in filigranen Bögen gebaute Brücke tragfäger sein kann als eine massiv gemauerte.

Für den in Berlin lebenden Carlo Inderhees gehört das Wort "Stille" in die Hitliste der durch Abnutzung bedeutungslos gewordenen Wörter - ähnlich, wie das Wort "ganzheitlich". Aber wenn schon von Stille die Rede sein soll, dann möchte er es als eine innere Ruhe verstanden haben, die man auch dann - oder gerade dann bewahrt, wenn die Situation um einen herum alles andere als ruhig ist. Und er weist darauf hin, daß in so einem Falle die Herstellung von Stille im Bewußtsein knallharte Arbeit ist. Auf einen weiteren Aspekt verweist Burkhard Schlothauer, wenn er schreibt:

"Freisetzung" empfinde ich auch, innerliches Verstummen, Sprachlosigkeit, sich lösen, frei werden, Zeit haben, wirklich Zeit haben".

Tatsächlich beginnt das Hören von Wandelweiser-Musik mit der Entscheidung, sich Zeit zu nehmen; sich einen Freiraum zu setzen, in dem unerwartete Erlebnisse die Zeit haben, in einen einzusickern.

Die meiste Musik, die von den "Wandelweisern" geschrieben wird, ist leise. Doch Radu Malfatti weist darauf hin, daß "leises" auch durchaus etwas lauter sein kann:

"... es ist richtig, dass ich mich als als reaktion auf die akustische Umweltverschmutzung zur zeit mit der sogenannten leisen musik beschäftige, die aber nicht meditativ oder gar religiös sein sollte, sondern eher eine fröhliche gelassenheit darstellen will. "leise" heisst aber auch nicht ausschließlich an der hörgrenzschwelle, sondern bedeutet eine ruhig dahinfließende musik, frei von [... krampfhaft aus dem 19.jahrhundert herübergezerrten] dramatischem auf- bzw. abbau". [...] "leise" will also nicht mit pastell-klangfarben [...] die gehirne der konsumenten verkleben. auch bilder von marcia hafif oder ida maibach sind leise, auch wenn sie manchmal laute farben verwenden. ich kann mir folglich auch eine ruhige musik mit lauten modulen gut vorstellen [...], wenn nur genügend pausen vorkommen ..."

Als "ruhige(n) musik mit lauten modulen" folgt nun "die Temperatur der Bedeutung" für Posaune Solo von Radu Malfatti, der seine Komposition selbst spielt:
 


[einblenden]

 

historische Einblendung 1: Schönbergs Verein für musikalische Privataufführungen

Daß Künstler zusammenarbeiten, deren Fragestellungen ähnlich gelagert sind, ist nicht neu. Man denke beispielsweise an "Die Brücke" oder die Gruppe "Der Blaue Reiter".

 

[Alban Berg: Klaviersonate op.1, gespielt von Glenn Gould. CD SMK 52661, LC 6868, track 1.]

 

Die Klaviersonate op.1 von Alban Berg, hier gespielt von Glenn Gould, verdankt ihre Uraufführung einer ganz ähnlichen Initiative, wie die Wandelweiser es füreinander sein wollen: Schönbergs Verein für musikalische Privataufführungen. Heute mag diese Sonate wie eine alte Bekannte wirken. Aber im öffentlichen Wiener Konzertleben von 1919 wäre sie kaum verstanden worden.

 

[langsam ausblenden - jede Stelle ist unpassend]

 

Mit ähnlicher Motivation wie der Schönberg-Kreis setzen sich auch die Wandelweiser vielfach als Konzertveranstalter füreinander ein und versuchen, der Musik ihrer Kollegen einen Rahmen zu geben, der ihren Besonderheiten Rechnung trägt.

Viele Wandelweiser-Kompositionen sind viel zu lang, um im Rahmen herkömmlicher Konzerte Platz zu finden. Andere leben geradezu aus dem Prozeß, in dem sie entstehen. Ein Beispiel ist das "Keyboardstück" von Kunsu Shim: es arbeitet mit einem Tastatur-gesteuerten Schlagzeug-Computer. Der Spieler, in diesem Falle ist es der Perkussionist Tobias Liebezeit, legt seine Hände für sechs Minuten still auf die Tasten. Natürlich kann er das nicht sechs Minuten lang aushalten, ohne doch ein bißchen zu zittern. Und dann entstehen Klänge wie diese hier, die in einem merkwürdigen Spannungsverhältnis zu der Tatsache stehen, daß man in der Konzertsituation nichts sieht.

 

[Kunsu Shim: Keyboardstück. Die private DAT-Aufnahme wurde mir von Tobias Liebezeit zur Verfügung gestellt]

 

Sehr glücklich über die Wandelweiser-Konzerte ist die Komponistin Makiko Nishikaze. 1968 in Japan geboren, ist sie die derzeit jüngste der Gruppe.

Ihr Ansatz ist die Beobachtung, wie die Hast des Alltagslebens die Wahrnehmungsfähigkeit beeinträchtigt: "Ob wir es merken oder nicht", schreibt Makiko Nishikaze, "unsere Wahrnehmung wird passiv. Wir konsumieren, ohne zu verdauen". - Gegenüber dem Sog der Alltagshektik möchte sie in ihrer Musik "Klänge ... schaffen, die zum aufmerksamen Hören einladen". - "Während ich das gestische Repertoire meiner Musik beschränke", schreibt Makiko Nishikaze, "bin ich stark interessiert an subtilen Veränderungen: der Noten, der Intervalle, der Dichte und Klangfarbe [...]. Durch all dies versuche ich einen unvorhersehbaren Fluß zu schaffen, der die Zuhörer einlädt, an der Entwicklung der Musik im realen Moment teilzuhaben. Ich komponiere Musik, während ich mir die Erwartungen des Publikums vorzustellen versuche, um dann mit meiner Imagination darüber hinauszugehen".

Ihre Komposition "butterfly" aus dem Jahre 1995, die sie am 11.5. dieses Jahres in der Akademie Schloß Solitude selbst spielte, schildert in sehr kurzen Teilen Situationen aus dem Leben eines Schmetterlings.

 

[Klangbeispiel "butterfly". Die DAT-Aufnahme des Konzertes in der Akademie Schloß Solitude vom 11.5.99 wurde mir von Makiko Nishikaze für diese Sendung zur Verfügung gestellt.]

 

Als "völlig neue Erfahrung gegenüber unserem Konzept von Zeit und Gedächtnis" - hatten Hörer einmal die Musik von Makiko Nishikaze beschrieben. Und

 
Zeit, Dauer und Beständigkeit

sind auch die zentralen Momente in dem von Carlo Inderhees auf drei Jahre hin angelegten Projekt in der Zionskirche in Berlin Mitte. Dort wird, noch bis zum Ende dieses Jahres, an jedem Dienstag Abend ab 19 Uhr 30 ein Solo-Werk von etwa zehn Minuten Länge uraufgeführt. Gleichzeitig wird für drei Jahre eine Skulptur von dem jungen Münchner Künstler Christoph Nicolaus aus Steinen installiert, deren Anordnung wöchentlich einmal geändert wird.

In der Zionskirche hat Dietrich Bonhoeffer gepredigt, und in den 80er Jahren war sie ein Ort stillen Widerstandes gegen das politische Regime der DDR. Das Wissen um diese Dinge spielt für Inderhees durchaus eine Rolle, wenn er sagt, daß er in diesem Raum eine große Energie der Stille empfindet - und das "inmitten der rastlosen Energien der Großstadt".

Bis vor kurzem waren hier, nach guter alter DDR-Tradition, noch die Fensterscheiben kaputt, und Carlo Inderhees fand es "phantastisch", wie durch diese kaputten Fenster, wie er sagt: "die Welt durchging". Denn dadurch entstand "so etwas wie eine Gleichzeitigkeit von Stille und Welt", die er auch für sein übriges Leben anstrebt, räumlich verdeutlicht durch die lärm- und temperaturdurchlässige Kirche!

 

[Klangbeispiel aus Carlo Inderhees: Siebenundvierzig Minuten für Orgel. Von einer selbstgebrannten CD von Carlo Inderhees.]

 

Dies war ein kleiner Ausschnitt aus den "Siebenundvierzig Minuten für Orgel" von Carlo Inderhees, gespielt von Klaus Lang, in Begleitung eines Gewitters.

In dieser Gleichzeitigkeitigkeit von Stille und Welt unterscheidet sich die Musik der meisten der Wandelweiser von der Sehnsucht der Romantiker nach Flucht in eine Gegenwelt der Kunst, die sich nur jenseits von Zeit, Raum, Kausalität und Philistertum verwirklichen ließe:



Historische Einblendung 2: Schubertiaden

 

[Klangbeispiel im Hintergrund:
Franz Schubert, Der Wanderer. Dietrich Fischer-Dieskau, Gerald Moore, CD 8, track 14]

 

Franz Schuberts Lied "Der Wanderer" gehörte zu den ersten von vielen, die der Hofsänger Johann Michael Vogl, von Schubert am Klavier begleitet, "einem kleinen, aber entzückten Kreise" vortrug, dessen Treffen als "Schubertiaden" Legende geworden sind. - In dieser Aufnahme wird Vogl von Dietrich Fischer-Dieskau und Schubert von Gerald Moore vertreten.

 

Identität und Individualität

"... das Land, das meine Sprache spricht, o Land, wo bist Du" - Diese Frage artikulierte das Lebensgefühl hinter den Fassaden des Metternich-Regimes, und vielleicht würde sie auch auf Chico Mello passen. Er beschreibt sich selbst als "europäischen Brasilianer", der sich in Rio de Janeiro zumindest ebenso fremd fühlt, wie in Berlin. Doch er macht aus seinem Leben zwischen den Kulturen eine Tugend:

"Eine Sprache mit Akzent zu sprechen ist etwas persönliches. Ebenso, wie Fehler zu machen. Wenn du keine Fehler machst, bist du wie ein Automat. Aber in dem Moment, wo du etwas falsch machst, zeigst du deine Persönlichkeit.
Ein Afrikaner hat mir einmal gesagt: "la vraie musique est la faux musique". Dabei bezog er sich auf Europäer, die afrikanische Musik spielen, und das natürlich nicht "richtig machen". - Aber was dabei herauskäme, fand er, sei eine höchst persönliche und sehr wahrhaftige Sache."

"Todo Canto" heißt ein Musikprojekt von Chico Mello, in dem er eine Italienerin, Amelia Cuni, die seine Lehrerin für indischen Gesang ist, und eine Inderin, Sithu Singh-Bühler die nur Opern singt, miteinander verbindet. In dieser Überkreuz-Begegnung behalten beide Kulturen ihre Identität - wenn sie sie nicht sogar noch stärker bewußt werden lassen.

 

[Schluß aus"Todo Canto": Schauspielhaus Berlin, 28.10.96. Private Aufnahme von Chico Mello.]

 

Um ein Wahren der Individualität und Identität um ihrer selbst willen geht es auch Kunsu Shim:

"ich denke, daß der grund der beschäftigung mit kunst ist, daß die welt so vielfältig wie möglich ... erweitert wird, um schließlich einen menschen als ganzes wieder zu gewinnen, der durch kollektivierung, geistige demokratisierung ... oder geschäftsmacherei verloren geht".

 

 

Historische Einblendung 3: Die Florentiner Camerata

Auch die Dichter und Musiker der Camerata Fiorentina wollten den Menschen nicht in übergeordnete Zwänge verstrickt wissen - schon gar nicht im Gewirr ausgeklügelter Polyphonien.

 

[Klangbeispiel
Thomas Tallis: Loquebantur variis linguis]

 

Die Monodisten wollten die Musik als einen Spiegel für den Menschen - und ein Spiegel sollte möglichst plan sein.

Aber ihre Zeitgenossen? -

Aus dem Blickwinkel der hohen Kunst der Vokalpolyphonie wirkte die Musik der Monodisten schrecklich eintönig und fade. Vielleicht hat manch ein Kritiker sogar noch über einen Monteverdi gesagt: "sowas könnte meine vierjährige Tochter auch schreiben".

 

[Klangbeispiel: Monteverdi, L'Orfeo, CD 2, Track 4:
("... e la mia cetra, / Se pietà non impetra/Ne l'indurato core, almen il sonno / Fuggir al mio cantar gl'occhi non ponno")].

 

[Burkhard Schlothauer: "52 langsame Registerveränderungen für Orgel". Selbstgebrannte CD von Burkhard Schlothauer, leider nur Mono.]

 

Es ist eine Frage des Hörwinkels, ob man diese "52 langsamen Registerveränderungen für Orgel" von Burkhard Schlothauer als "bloße Registerwechsel" auffaßt, oder als Spiel der Obertöne und Interferenzen mit den akustischen Eigenheiten des Kirchenraumes, die sich zu Rhythmisierungen zusammenfinden, wie sie sich vielfältiger und - wie man manchmal sagt: "organischer" kaum ausnotieren ließen.

"Die Konzentration auf eine einzelne Sache offenbart letztendlich deren Vermögen, viele Sachen zu sein".

schreibt der amerikanische Komponist Michael Pisaro ganz im Sinne der vorangegangenen Komposition seines Kollegen. In seiner Komposition "Here 2" schiebt sich - mal mehr oder weniger merklich - ein Flötenton in den Akkordeonklang:

 

[Klangbeispiel aus Michael Pisaro: Here 2 (1996), die ersten zwei Minuten]



Als Musik, die das Glück fühlen läßt, zu leben, sieht auch Carlo Inderhees die Musik der Wandelweiser, sofern sie darin besteht, immer nur einzelne Impulse zu geben, nach denen sie das Hörerbewußtsein wieder freisetzt.

Er beruft sich dabei auf den irisch-polnisch-französischen Philosophen Henri Bergson und seinen Begriff der "reinen Dauer". Das Bewußtsein kann laut Bergson zur "reinen Dauer" gebracht werden, wenn ein Mensch sich nicht mit etwas Bestimmtem beschäftigt, an nichts Bestimmtes denkt, sondern sich selbst in einem Moment philosophischer Intuition als Werdendes erlebt:

"... die Materie und das Leben, welche die Welt erfüllen, sind ebenso sehr in uns, die Kräfte, die in allen Dingen wirken, fühlen wir auch in uns; welches auch immer das innerste Wesen des Seins und Geschehens sein mag, wir gehören dazu".
- "Ohne Zweifel vermag die Intuition sehr viele verschiedene Grade der Intensität anzunehmen und die Philosophie sehr viele Grade der Tiefe; aber der Geist, der zur wahren Dauer zurückgeführt worden ist, hat dadurch ohne weiteres Teil an der lebendigen Intuition".

Die für viele Wandelweiser-Komponisten typischen Schnitte zwischen Klang und Stille sind für Carlo Inderhees die Momente, in denen das Bewußtsein die Chance bekommt, zur reinen Dauer zurückgeführt zu werden: Das Lauschen auf die absichtslosen Klänge hält das Bewußtsein davon ab, sich von etwas "schlucken" zu lassen; es hebt das Bewußtsein auch aus den Sümpfen seiner inneren Befindlichkeiten heraus und verankert es im Hier und Jetzt. Und an dem Punkt, wo der Klang seine Materialität verliert, wird es freigesetzt, um in sich Stille herzustellen.

Der junge Schweizer Komponist Manfred Werder schreibt: "Meine Hoffnung ... ist die Verweltlichung des Menschen durch seine Umwelt im Moment einer Aufführung":

Es folgen ein paar Klänge aus Manfred Werders "Stück 1998" in einer solistischen Version von Cécile Olshausen, Violoncello. Eine komplette Aufführung dieses Werkes, in dem sich die Aktionen beliebig vieler Instrumentalisten addieren könnten, würde 400 Stunden betragen. Das Stück gliedert sich in den Wechsel zwischen 6 Sekunden Klang und sechs Sekunden Stille. Die Partitur ist auf kein spezifisches Instrument zugeschnitten. Dadurch finden sich in ihr immer wieder Aktionen, die von dem jeweiligen Instrument nicht ausgeführt werden können, die im Verlauf des Stückes aber dennoch ihren Zeit-Raum behalten, so daß weitaus längere Pausen entstehen.


[DAT-Band. Private Aufnahme von Manfred Werder, die er mir ausschließlich für diese Sendung zur Verfügung gestellt hat.]

 

Subjektiver/objektiver Kunstbegriff

Die radikale Abkehr von einem musikalischen Werkbegriff, den dieser starre Wechsel zwischen Klang und Stille mit sich bringt, erläuterte Carlo Inderhees:

"Wenn ich eine Struktur baue, die Klimax und Antiklimax hat, [...] denn - sagen wir mal: spekuliert der Komponist eigentlich darauf, daß die Wahrnehmung an dieser Struktur sich festmacht.

Und wenn ich einen Zustand schaffe, wo eine Stunde lang immer der gleiche Klang erklingt und der Klang auch die gleiche Dauer hat, wie die danach folgende Pause, dann heißt das eigentlich erstmal, daß sich, objektiv gesehen, da nichts verändert. Deswegen gibt es da ja auch Schwierigkeiten, daß eben Kollegen sagen: das ist keine Komposition. Grundsätzlich, ne? 'ne Komposition, vom ästhetischen Standpunkt her, braucht die Differenz. Und ich denke eben, daß die - wenn sich objektiv von der Komposition her nichts ändert, sich aber in jedem Fall subjektiv von dem Wahnehmenden etwas verändert. Das heißt: daß die Differenz in einer Komposition von der Art und Weise sich von allein herstellt. Über das Hören halt."
DORIS KÖSTERKE: "Also daß doch der Schwerpunkt des Kunstwerks, wenn man das mal so nennen möchte, in der Wahrnehmung liegt."
CARLO INDERHEES: "Klar."

Stille und Lärm haben gemeinsam, daß beide nichts von einem wollen, hatte John Cage einmal beobachtet. Deshalb könne man auch Lärm wie Stille empfinden.

Die meisten der Wandelweiser-Komponisten schreiben eine Musik, die ihre Hörer auf sich selbst zurückwirft: in der Frage, wie man mit den ausgedehnten Pausen umgeht; in der Lust am Zuhören, an einer gesteigerten Aufmerksamkeit; oder auch in der Freude, in sich zu Hause sein - . Die Differenziertheit ihrer Klänge schafft eine innere Einstellung, mit der man auch dem Rest der Welt begegnet. Manchmal schafft diese Musik auch einfach nur Freiräume, durch die der Ton der Welt dringen kann - oder die eigene innere Stimme.

 

Thomas Stiegler: spiele im kreis

[Klangbeispiel: Ausschnitt aus "spiele im kreis" von Thomas Stiegler]

 
In die Abmoderation:

Auch der Schlaf kann so etwas wie ein offenes Fenster zu dem "Saum von Instinkt" sein, der um den Verstand verblieben ist (frei nach Bergson: er bezog sich dabei auf die Religion).

Das letzte Klangbeispiel war ein Ausschnitt aus "spiele im kreis" von Thomas Stiegler. Es spielte das trio akkobasso mit Anja Schmiel, Oboe, Heike Storm, Akkordeon und Eberhard Maldfeld, Kontrabaß in einer Aufführung im kunstraum düsseldorf am 21.9.98 [eigene Aufnahme Doris Kösterke].

 

 
Literatur:

Henri Bergson: Die philosophische Intuition (1911). In: Denken und schöpferisches Werden. Aufsätze und Vorträge. Frankfurt/M. (Syndikat) 1985, S.126-148.

3 Jahre - 156 musikalische Ereignisse - Eine Skulptur. Konzept, Dokumentation, Presse-Mappe. Konzept und Organisation: Carlo Inderhees, Zionskirchstr. 34, 10119 Berlin, Tel.: 030 - 440 70 47.

François Jullien: Über das Fade - eine Eloge. Zu Denken und Ästhetik in China. Berlin (Merve) 1999.

Doris Kösterke: Starke stille Gäste. Aus der Umgebung von John Cage. Frankfurter Rundschau Nr.124, Pfingsten 1998, S.M13. [eine Besprechung der ersten acht CDs aus der "edition wandelweiser"].

Chico Mello: Ladainha. In: Positionen 34, Februar 1998, S.26.

Michael Pisaro: Sensibilität herausfordern. In: Programmheft Klangraum Klavier. Kunstraum Düsseldorf, Januar - Mai 1999. S.18-20 (Erstveröffentlichung in: Elbe-Jeetzel-Zeitung, Lüchow 1998).

Michael Pisaro: Ein Instrument mit vier Faltungen. In: Positionen 34, Februar 1998, S.3f.

Volker Straebel: Kunst der Reduktion. Carlo Inderhees / Christoph Nicolaus: garonne (24) für sich. In: Positionen 38, Februar 1999, S.14-16.







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