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Doris Kösterke
Cages Musik
als Lebenshilfe
Vortrag, gehalten auf dem Symposium
„About Cage“ im i-camp, München,
30.9.2012
Sehr geehrte Damen und Herren
Ich grüße Sie herzlich. Denn ich freue mich, dass
Sie hier
sind und ich Ihnen etwas erzählen kann, das mich immer sehr
fasziniert hat: über die lebenspraktische und
gesellschaftsutopische Dimension in Cages künstlerischem
Schaffen.
Es geht hier quasi um eine Meta-Ebene von Kunst, die ich in Anlehnung
an eine Formulierung von Heinz-Klaus Metzger mit der Frage
„Kultur – wozu?“ umreißen
möchte.
Diese Frage schwebt keineswegs abstrakt über Cages Schaffen.
Spätestens seit 1958, seit seinen „Variations
I“, sind
seine Stücke handgreifliche Modelle für einen
besseren Umgang
mit sich selbst, zunehmend dann auch für einen besseren Umgang
mit
den Mitmenschen und auch für eine bessere Gesellschaft.
Mein Titel, „Musik als Lebenshilfe“ ist dabei
mehrdeutig.
Auf der persönlichen Ebene hat wahrscheinlich jeder von uns
schon
erfahren, dass es in schwierigen Lebenssituationen sehr helfen kann,
sich mit Musik zu beschäftigen. Sei es, indem man sie
hört,
selbst spielt und vielleicht auch verbale Wegweiser nutzt, um noch
tiefer in sie einzudringen und sie noch umfassender wahrzunehmen.
Cages Musik trägt jedoch auch den Anspruch in sich, dem Leben
schlechthin zu helfen, das durch die Lebensweise moderner Menschen
zunehmend in Gefahr gerät. Und zwar in doppeltem Sinne: Sie
möchte der Zerstörung der Lebensgrundlage
entgegenwirken.
Aber sie möchte auch jeden einzelnen Menschen lebendiger
machen.
Wobei sich der Kreis wieder schließt.
Nun habe ich Ihnen gleichsam ein Knäuel vorgestellt, das ich
im
Folgenden versuche aufzudröseln. Wenn ein paar Knoten bleiben,
können wir sie vielleicht später noch gemeinsam
auflösen.
Ich beginne chronologisch, mit der persönlichen Ebene.
Mitte der Vierziger Jahre hatte Cage persönliche
Schwierigkeiten,
die auch zur Scheidung von seiner Frau Xenia führten.
In diese Zeit der Krise, in der er sich auch fragte, warum er
überhaupt Musik schrieb, fällt seine Bekanntschaft
mit der
indischen Musikerin Gita Sarabhai. Er gab ihr Unterricht in
Kontrapunkt, und als „Honorar“ hatten sie
vereinbart, dass
sie ihm dafür etwas über die indische Musik
erzählte.
Von ihr erfuhr er den Grund, warum man nach indischer Auffassung ein
Musikstück macht: „Um den Geist zur Ruhe zu bringen
und ihn
so den göttlichen Einflüssen zu
öffnen“.
Cage fragte sich, was „göttliche
Einflüsse“ sind
und was ein „ruhiger Geist“ ist und begann, sich
mit
fernöstlicher Philosophie zu beschäftigen.
Er hörte Vorträge von Alan Watts, Anfang der 1950er
Jahre
schrieb er sich an der Columbia University bei Daisetz Teitaro Suzuki
ein.
Cages Fernost-Rezeption ist die eines pragmatischer Eklektikers, der
unbekümmert die verschiedensten Konzepte durchforstet und sich
herausnimmt, was er brauchen kann. So bitte ich alle zu
wissenschaftlichem Denken Erzogenen und alle Spezialisten für
östliche Philosophie unter Ihnen, tief durchzuatmen und sich
sagen: Cage ist Künstler. Er darf das.
Von Suzuki übernahm Cage eine Sicht von der Welt als ein
komplexes
gegenseitiges Durchdringen gleichberechtigter Zentren, das er in den
Begriff „Unimpededness and
Interpenetration“ fasste.
Das ungehinderte Einander Durchdringen wurde sein Ideal, das er auf
allen Gebieten seines Wirkens, von der Musik zum sozialen Miteinander
zu verwirklichen suchte. Wobei er seine Gedanken zunächst auf
dem
Gebiet der Musik ausprobierte, um sie später auf die soziale
Ebene
zu übertragen.
Aus dem Zen-Buddhismus lernte Cage, alles menschliche Leiden
käme
aus dem emotionalen „Durst“: Man will etwas, das
man nicht
bekommen kann. Und leidet darunter, dass man es nicht bekommen kann.
Und je mehr man sich an dem festbeißt, das man nicht bekommt,
umso mehr verengt sich der Blick auf das, was man unbedingt haben will.
Bis man schließlich nur noch das sieht, was man nicht hat und
an
allen schönen Dingen des Lebens achtlos vorbeigeht.
Wenn man also glücklich leben will, fand Cage, braucht man
sich
einfach nur abzugewöhnen, bestimmte Dinge zu wollen oder nicht
zu
wollen.
Die Funktion von Musik in der indischen Tradition: den Geist zur Ruhe
bringen und ihn für die Göttlichen Einflüsse
zu
öffnen interpretierte Cage später so, dass die
Göttlichen Einflüsse nichts anderes wären
als die
Umwelt, in der wir uns befinden..
Man schottet sich von der Umwelt ab, wenn man ein Ziel verfolgt. Etwa,
wenn man komponieren will.
Cage wollte sein Komponieren aber nicht mehr als etwas begreifen, das
neben dem Leben stattfindet und deshalb auch ständig vom Leben
gestört werden kann. So beschloss er, sein Komponieren selbst
zur
Zen-Übung zu machen. Sein Ziel war zunächst,
Töne nichts
als freie Töne sein zu lassen, ohne den
„Klebstoff“
einer Technik, die über sie bestimmte und ihnen einen
bestimmten
Platz in einem Ganzen zuwies. Er versuchte, sich über die Art
seines Komponierens mit Diagrammen und verschiedenen Zufallsoperationen
von der Tyrannei seiner Vorlieben und Abneigungen, möglichst
sogar
von seiner Art zu denken zu befreien. Und in Perioden einkomponierter
Stille Fenster und Türen zu den Geräuschen der
Umgebung zu
öffnen. „Ich arbeite im Bewusstsein, das Gegebene zu
akzeptieren, anstatt es kontrollieren zu wollen“, formulierte
er.
So machte er seine Musik zu einem Mittel, sich selbst zu
verändern. Zunächst, um selbst mit seinem Leben
besser
klarzukommen und stellte fest, dass ihm das gut tat; dass er viel
offener und fröhlicher wurde. Und fand auch, dass seine Musik,
befreit von seinem persönlichen Geschmack, viel interessanter
klang als alles, was er sich von sich aus hätte einfallen
lassen
können.
Aber nicht nur das. Nicht von ungefähr hat er etwa seine
„Lecture on the Weather“, die er 1976 im Auftrag
des
kanadischen Rundfunks für die 200-Jahrfeier der USA schrieb,
mittels Zufallsoperationen und in den Proportionen seines Stillen
Stückes 4’33’’ geschrieben. Cage
begriff dies
als konstruktive Kritik am Führungsstil der USA. Denn anders
als
durch selbstsüchtig kalkulierende Entscheidungen
könne
über Zufallsentscheidungen niemand systematisch ausgebeutet
und
unterdrückt werden, weder die Umwelt noch ärmere
Mitmenschen.
Das Stillsein, hatte er bereits als Fünfzehnjähriger
als
politisches Mittel angepriesen und damit einen Rhetorikwettbewerb
kalifornischer Highschools gewonnen. Das Thema hieß
„Lateinamerika – wie sollen wir uns
verhalten?“. Und
der Kernsatz in Cages Antwort war:
„Es wäre eine der größten
Segnungen, die den
Vereinigten Staaten … widerfahren könnte, wenn sie
ihre
Industrie anhalten würden, wenn ihre Wirtschaft aussetzte und
dem
Volk das Reden verginge, wenn schließlich alles stillstehen
würde, was läuft … . Dann könnten
wir die Frage
beantworten ‚Was sollten wir tun?’. Denn wir
wären
schweigsam und still und hätten Gelegenheit zu erfahren, dass
andere Völker denken“.
Cage meinte seine Kritik durchaus fürsorglich. In seinem
Vorwort
zur „Lecture on the Weather“ erinnert er an
große
Weltreiche der Geschichte, die im Streben um Ertrag und Macht zugrunde
gegangen sind. Seine „Lecture on the Weather“ war
als ein
nachhaltiges Stück Lebenshilfe für die USA gemeint.
Als Lebenshilfe im zwischenmenschlichen Bereich sollten Töne
nichts als Töne sein, damit auch Menschen nichts als freie
Menschen sein könnten.
Wie geht das?
Ich möchte versuchen, Ihnen das anhand der „Etudes
Australes“ (1974/75) zu verdeutlichen, die Sabine Liebner
gestern
Abend für uns gespielt hat.
Sie sind Mitte der 1970er Jahre entstanden, nicht lange nach Erscheinen
des Buches „Die Grenzen des Wachstums“. In dieser
Zeit
stellte Cage heraus, dass angesichts der Umweltprobleme, die sich die
menschliche Zivilisation geschaffen hat, harte Arbeit notwendig, und
auch keineswegs erfolglos sei. In dieser Zeit schrieb er
Stücke,
die enorm schwierig zu spielen sind, die Paul Zukofsky gewidmeten
„Freeman Etudes“ für Violine
(1977–90), die
„Etudes Boreales“ (1978) für Violoncello
und/oder
Klavier und die „Etudes Australes“. Cage sagte
darüber: „… ich habe ganz bewusst
versucht, die
Stücke so schwierig wie möglich zu gestalten, weil
ich der
Ansicht bin, dass wir in unserer Gesellschaft mit sehr ernsthaften
Problemen konfrontiert sind. Wir neigen sogar dazu, die Situation als
hoffnungslos zu bezeichnen“. Er wollte jedoch auf
musikalischem
Gebiet die Erfahrung ermöglichen, dass scheinbar
Unmögliches
letztlich doch möglich wird, sofern man nur hart genug daran
arbeitet und will damit Mut machen, sich unserer scheinbar
hoffnungslosen gesamtweltlichen Situation anzunehmen.
Vorlage für die Komposition waren Sternkarten, wie zuvor schon
für das Orchester-Stück Atlas Eclipticalis (1961) und
die
Song Books (1970). Die Sterne vermittelten Cage eine Vorstellung vom
Nirwana als etwas, das über unser Wollen und Nichtwollen und
unsere Zu- und Abneigungen erhaben ist: Eine vollkommene
Verkörperung des Ideals eines ungehinderten Einander
Durchdringens.
In einem schematischen Prozess übertrug er diese
„Punkte“ in Töne.
Wesentlich für eine anarchische Musik – analog zu
einer
anarchischen Gemeinschaft - ist also, dass sie nichts und niemanden
ausschließt. Mit Hilfe von Methoden der Unbestimmtheit werden
Strukturen geschaffen, in denen Klänge wie Menschen sich ohne
Rücksicht auf ihre Eigenheiten einfinden können: So
ist die
Musik der Etudes Australes nicht auf Harmonie gebaut, sie
schließt sie aber auch nicht aus.
Wenn ein Interpret sich fragen muss, was der Komponist mit einem
Stück, oder einer musikalischen Geste
„sagen“ will,
wird er nach Cages Konzept von sich selbst getrennt, weil er sein
Zentrum ein Stück weit aus sich selbst heraus in Richtung auf
den
Komponisten verlagert. (143). Wenn hingegen die Klänge nichts
als
freie Klänge sind, sind auch die Menschen, die sie erzeugen
und
die Menschen, die sie hören frei dazu, ihr Zentrum in sich
selbst
zu tragen. In einem Brief an Dieter Schnebel schrieb Cage, Ein guter
Interpret sei der, der – genau wie Cage als Komponist
–
seine Tätigkeit als mentales Training begreift.
Das Stück ist ein Duo für zwei voneinander
unabhängige
Hände eines einzelnen Menschen, weil Cage die Erfahrung
gemacht
hat, dass Menschen innerhalb von Institutionen wie einem Orchester
nicht aus ihrem eigenen Zentrum heraus schaffen können:
„Unsere Institutionen, nicht nur die musikalischen, sind
für
harte Arbeit nicht zu haben. Ihre Zeit ist bis auf die Sekunde
gezählt und begrenzt. Das Ziel eines Einzelnen innerhalb einer
Institution hat nichts zu tun mit der Arbeit, die getan werden muss
oder mit dem Zustand seines Geistes, sondern nur mit der erwarteten
Bezahlung“.
Einzelne Menschen hingegen, wie zum Beispiel auch Grete Sultan, der
dieser Zyklus gewidmet ist, seien begeistert von der Idee, harte Arbeit
auf sich zu nehmen.
Cage zitiert recht oft den Satz, mit dem Henry David Thoreau sein Essay
„Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den
Staat“
beginnt: „Die beste Regierung ist die, die gar nicht regiert.
… Und wenn die Menschen nur erst reif dafür sein
werden,
wird dies die Regierungsform sein, die sie haben werden“.
Cages
Ziel war es, dass Menschen über die Beschäftigung mit
seiner
Musik reif dazu würden, in einer Anarchie zu leben, weil sie
in
harter Arbeit erfahren haben, dass man völlig
uneigennützig,
mit Spaß an der Sache und effektiv zusammenarbeiten kann.
Niemand hat Sabine Liebner dazu gezwungen, diese Stücke auf
sich
zu nehmen. Sie hat von sich aus gesagt, das mach ich, das will ich
schaffen und das halt ich durch.
Wenn jemand aus eigenem Antrieb etwas Gutes macht, an dem Andere Teil
haben können, ist das jene Form der Anarchie, die Cage sich
für den Rest des Lebens wünscht:
In anarchischen Aufführungssituationen hatte er die Erfahrung
gemacht, dass sie sich positiv auf die Gefühle des Einzelnen
auswirken: „Furcht, Schuld und Gier, die mit hierarchischen
Gesellschaftsformen verbunden sind, weichen einem gegenseitigen
Vertrauen, einem Sinn für das gemeinsame Wohlergehen und einem
Bedürfnis, miteinander zu teilen, was der eine haben oder tun
mag“, sagt er in „Empty Words“. An diese
Erfahrung
und seine Überzeugung, dass man Menschen am besten durch
angenehme
Erlebnisse ändern könne knüpfte er die
Hoffnung, dass
jeder Einzelne die gesamte Menschheit als seine Familie und die ganze
Erde als sein Zuhause ansehen könnte, in dem er beim
Aufräumen hilft.
Als er 1990 bei den Internationalen Ferienkurse für Neue Musik
in
Darmstadt zu Gast war, eröffnete er die Forumsdiskussion mit
einem
Vortrag über seine Sicht auf den Zustand der Welt:
Während
die Menschheit in Gefahr sei, ihre eigenen Lebensgrundlage zu
zerstören, gebe es keinen Standpunkt, auf dem man mit
Sicherheit
beharren könnte und kein Ziel, das sich mit gutem Gewissen
verfolgen ließe. Das Ganze sei völlig anders, als
alles, was
es bisher gegeben habe. Es gebe keine Erfolg versprechenden Konzepte.
Angesichts der Vielzahl von gleichermaßen anerkannten
–
oder auch gleichermaßen nicht anerkannten Ansichten davon,
was
getan werden müsse, ist jeder auf eignes
Urteilsvermögen
zurückgeworfen. Mit Marshall McLuhan und Buckminster Fuller
räumt Cage dem gesunden Menschenverstand die höchste
Autorität vor allen Konventionen ein. Durch die elektronischen
Medien sei jeder Mensch befähigt, sich sein eigenes Bild vom
Zustand der Welt zu machen und auch davon, an welchem Punkt er seine
Kraft einsetzen könnte, um etwas zu ändern. Dabei
sollte sich
niemand einfach der Meinung eines anderen anschließen: Denn
sobald sich eine einzige Ansicht darüber, wie man die
bestehenden
Probleme lösen sollte gesellschaftlich durchsetzt und durch
den
Rückhalt von öffentlichen Institutionen
verstärkt wird
besteht die Gefahr, dass eine falsche Entscheidung in ihrer Wirkung
multipliziert wird und mehr schadet als nützt. Wenn hingegen
jeder
Mensch aus eigenem Zentrum heraus gemäß seinem
eigenen
Urteilsvermögen und natürlich einem hohen
Verantwortungsbewusstsein heraus handelt, besteht Hoffnung, dass sich
innerhalb der individuellen Meinungen darüber, was in der Welt
getan werden müsse und was nicht eine Art
ökologisches
Gleichgewicht einstellen möge.
Ich danke Ihnen!
Literatur (Auswahl):
Besonders empfohlen:
John Cage: The Future of Music“ (1974/79). Abgedruckt in
Ders.:
Empty Words. Writings `73-`78. Middletown, Conn. 1979. S.177-187.
In den Fußnoten verwandte Abkürzungen:
JCS: John Cage: Silence. Lectures and Writings by John Cage.
Middletown, Conn. 1961.
JCA: John Cage: A Year from Monday. New Lectures and Writings.
Middletown, Conn. 1967.
JCE: John Cage: Empty Words. Writings `73-`78. Middletown, Conn. 1979.
JCM: John Cage: M. Writings `67-`72. Middletown, Conn. 1973.
JCX: John Cage: X. Writings `79-`82. Middletown, Conn. 1983.
JCG: „John Cage im Gespräch. Zu Musik, Kunst und
geistigen
Fragen unserer Zeit“. Hg. Von Richard Kostelanetz,
Köln
1989.
Ferner:
Richard Kostelanetz: John Cage, Köln 1973.
John Cage: Silence. [Auswahl] Aus dem Amerikanischen übersetzt
von
Ernst Jandl. Frankfurt (Suhrkamp) 1987. 6. Auflage, 2007 [ISBN
978-3-518-22193-8].
Ananda Kentish COOMARASWAMY: The Transformation of Nature in Art
(1934). NA: New Delhi (Munshiram) 1994. ISBN-10: 8121503256; ISBN-13:
978-8121503259.
Doris Kösterke: Kunst als Zeitkritik und Lebensmodell. Aspekte
des
musikalischen Denkens von John Cage (1912-1992). Regensburg (Roderer)
1996 (Zugl.: Mainz, Univ., Diss., 1995) [vergriffen].
„Musik wozu?“ war der Titel eines
Vortrags am
7.6.1969 und Titel einer Schriftensammlung, die Rainer Riehn
herausgegeben hat.
Vgl. u.a.: „… art is a sort of
experimental station
in which one tries out living“, „Lecture on
Something“, 1954, JCS S.139; Kunst als „eine Art
Labor, in
dem man das Leben ausprobiert“ (Übersetzung Jandl);
„Musik … , die mit dem Rest des Lebens nichts zu
tun hat,
interessiert mich schon lange nicht mehr. Rein musikalische Fragen sind
keine ernsthaften Fragen mehr“ - “For many years I
have
noticed, that music – as an activity seperated from the rest
of
life – doesn’t enter my mind. Strictly musical
questions
are no longer serious questions”. (JCE 177).
An vieler ausdrücklich politischer Musik, Cage nennt Cornelius
Cardew und sein Scratch Orchestra, kritisiert Cage, dass ihr ein
Übermaß an theoretischen Konzepten vorangestellt
würde.
JCG 200; 145. Sein Aufsatz „The Future of Music“
(1974/79),
der seinen 1979 herausgegebenen Sammelband beschließt (JCE,
S.
177-187), ist eine der deutlichsten Formulierungen der Parallelen
zwischen Musik und gesellschaftlicher Utopie.
Sie wurde durch das 1972 vom Club of Rome
veröffentlichte Buch „Die Grenzen des
Wachstums“ bewusst.
Vgl. u.a. „45’ for a Speaker“,
1954, 40”;
JCS 158. Zur gleichen Zeit las sein Freund Earl Brown einen
mittelalterlichen Text, in dem genau das gleiche stand. Wie nahe sich
indische und mittelalterliche Kunsttheorie sind, schreibt auch Ananda
Kentish Coomaraswamy in seinem Buch „The Transformation of
Nature
in Art“ (1934), das Cage ebenfalls häufig
erwähnt.
„Silence“ S. XI. Watts war ein Vorreiter
der
Fernost-Rezeption in der westlichen Welt und beeinflusste insbesondere
in der Subkultur der 1960er Jahre. Er plädierte zum Beispiel
für die Ansicht, dass Buddhismus weniger eine Religion sei als
seine Form der HYPERLINK
"http://en.wikipedia.org/wiki/Psychotherapy" \o "Psychotherapy"
Psychotherapie (Wikipedia). Cage hat oft formuliert, dass die
Beschäftigung mit fernöstlichen Weisheitslehren bei
ihm die
Funktion einer Psychoanalyse eingenommen hätte.
nach 1952, vgl. Martin Erdmann: Chronologisches
Werkverzeichnis.
Abgedruckt in: Heinz-Klaus Metzger, Rainer Riehn (Hrsg.): John Cage II
(Musik-Konzepte Sonderband), 2. Auflage, München 2000, ISBN
3-88377-315-8; „für zwei Jahre“
(http://de.wikipedia.org/wiki/John_Cage).
Alan Watts soll später den Einfluss des
Zen-Buddhismus auf
Cages Schaffen in Frage gestellt haben. Im Vorwort zu seiner 1961
erschienenen Schriftensammlung „Silence“ (S. XI)
nimmt Cage
dazu Stellung und schreibt, dass er Zen nicht für sein Tun
verantwortlich machen wolle. Dass er aber ohne seine
Beschäftigung
damit niemals hätte tun können, was er getan habe. Er
weist
an dieser Stelle (Silence, XI) auch darauf hin, dass weder Dada noch
Zen feste Größen sind, sondern Strömungen,
die sich
verändern.
Vgl. u.a. Christof W. Hahn: Unzählige Zentren. John
Cage und
seine Ausstellung „Kunst als Grenzbeschreitung“ in
München. In: die tageszeitung, 24.7.1991. Vgl. auch JCG S.52f.
„My Ideas certainly started in the field of Music.
And that
field, so to speak, is child’s play. (We may have learned
… in those idyllic days, things it behoves us now to
recall.)
Our proper work now if we love mankind and the world we live in is
revolution”. JCA, S. IX; 16.Vgl. auch JCE 182;
John Cage: Bericht 1966. Abgedruckt in: Richard Kostelanetz:
John Cage, Köln 1973, S. 105.
JCG S.24f.
Vgl: John Cage: Preface to „Lecture on the
Weather“. Abgedruckt in: JCE, S. 3-5.
John Cage: Andere Völker denken (1927). Abgedruckt
in:
Richard Kostelanetz: John Cage, Köln 1973, S. 72-76; S.75.
JCE Ss. 184 und 186.
Vgl. Perloff, Marjorie, and Charles Junkerman. 1994. John
Cage:
Composed in America. Chicago: University of Chicago Press.
HYPERLINK "http://en.wikipedia.org/wiki/Special:BookSources/0226660567"
ISBN 0-226-66056-7 (cloth) HYPERLINK
"http://en.wikipedia.org/wiki/Special:BookSources/0226660575" ISBN
0-226-66057-5 (pbk) S.140 [übersetzt nach
http://en.wikipedia.org/wiki/Etudes_Australes].
In diesem Falle dem Atlas Australis, Sternkarte des
südlichen Sternhimmels, von Antonín
Bečvář, den er
1964 in Prag kennengelernt hatte.
) “Die Idee vom Nirwana ist nicht etwas Negatives,
sondern
meint das ‘Auslöschen’ der Dinge, die die
Erleuchtung
verhindern“. JCG S. 48. Vgl. auch JCG S. 22.
Dem Kompositionsprozess ging voraus, dass Cage einen Katalog
mit
Drei-, Vier- und Fünfklängen erstellte, die mit einer
Hand
ohne Hilfe der anderen spielbar sind.
Außerdem bestimmte er für jede Etüde, wie
viele Sterne
zu einem Aggregat zusammengefasst werden sollten. In der ersten Etude
ist diese Frage durch eine einzelne Zahl beantwortet, in der zweiten
durch zwei Zahlen, usw.. So dass die Etüden zunehmend mehr
Aggregate enthalten. In der Ersten überwiegen
Einzeltöne, in
der 32. sind etwa die Hälfte der Klänge
Mehrklänge.
Dann legte er einen knapp 2 cm breiten Transparentstreifen
über
die Karten. Seine Breite bestimmte die Auswahl, welche Sterne benutzt
wurden. Innerhalb dieser Breite bestimmte Cage die Lage der
Töne
innerhalb einer Oktave (?). Über Zufallsentscheidungen mittels
I-Ging übertrug er diese Töne in die
verfügbaren Oktaven
für die linke und rechte Hand. Die resultierenden
Noten
entsprechen nur der horizontalen Lage der Sterne und nicht alle Sterne
werden benutzt, weil die Sternkarten eine Vielzahl von Farben
verwandten und Cage seine Auswahl jedes Mal auf bestimmte Farben
beschränkte. Am Ende würde Cage eine Kette mit Noten
haben
und das I Ging fragen, welche von ihnen Einzelnote bleiben und welche
Teil eines Aggregats werden sollte.
Vgl. Kostelanetz, Richard. Conversing with John Cage. New
York:
Routledge 2003. ISBN 0-415-93792-2, S.91. – Nach
http://en.wikipedia.org/wiki/Etudes_Australes.
Vgl. John Cage: Unbestimmtheit (1958). In: Die Reihe, Nr.5
(1959), S. 116-21; S. 117. Vgl.auch Vorwort zu „A Year from
Monday“, S. IX.
Vgl. Dieter Schnebel: Disziplinierte Anarchie –
Cages
seltsame Konsequenzen aus der Lehre bei Schönberg. In:
„Herausforderung Schönberg“, hg. Von
Ulrich Dibelius,
München 1974, S. 151-60; S. 158.
JCE 184.
„The Resistance to Civil Government“,
1849.
JCE, S. 183.
John Cage: Empty Words. Writings `73-`78. Middletown, Conn.
1979; S.18.
„The Future of Music“ JCE, S. 186.
JCE 182.
Vgl. Hans Jonas: Das Prinzip Verantwortung (1979), deutsch
Frankfurt/M. 1984, S. 7.
Mit Cage ließe sich sagen, dass viele Probleme
unserer Zeit
gerade dadurch entstanden, dass man sein Augenmerk auf Bestimmtes
fixiert hat, während scheinbar periphere Dinge unbemerkt zu
gravierenden Problemen angewachsen. Zum Beispiel war es lange ein Ziel,
mit immer weniger Aufwand immer mehr Annehmlichkeiten zu
genießen, etwa, indem man Autos immer
funktionstüchtiger und
billiger machte. Erst später merkte man, dass ihre Abgase zum
Problem werden.
About Cage – i-camp, München, 30.9.2012 - Doris
Kösterke: Cages Musik als Lebenshilfe
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Doris Kösterke
Über
den Komponisten Antoine Beuger
Klänge schwingen sich ein und verschwinden in eine Stille. Die
Stille im Schatten eines verschwundenen Klanges klingt anders, als wenn
dieser Klang nicht dagewesen wäre. Das musikalische Umspielen
von
Stille interessierte den 1955 im niederländischen Oosterhout
geborenen Antoine Beuger schon, als er noch zur Schule ging. Zu diesem
Spiel gehörte für ihn schon zu Beginn der siebziger
Jahre das
Kraftfeld, das im Raum spürbar wird, wenn mehrere Menschen
ihre
Erwartungen auf etwas fokussieren.
Nach dem Abitur studierte Antoine Beuger Komposition bei Ton de Leeuw
am Sweelinck Conservatorium Amsterdam und rieb sich so lange an dem
Primat kompositorischer Handwerklichkeit, bis er nicht mehr wusste, was
er künstlerisch eigentlich wollte. Nach Abschluss seines
Studiums
hatte er denn auch keine Lust mehr, sich überhaupt noch mit
Musik
zu beschäftigen: "Ich kam mir vor wie ein verklemmter
Intellektueller, der lauter komplizierte Sachen schreibt, die keine
Vitalität haben und fürchtete: wenn ich so
weiterkomponiere,
werde ich immer noch verstockter".
Einen Ausweg erhoffte er sich von dem radikal kommunistischen
Experiment einer internationalen Kommune. Dort bestand der Anspruch,
private Empfindungen ebenso allgemein zugänglich zu machen wie
Sacheigentum und private Beziehungen: "In der Kommune bestand das
Gebot, jederzeit spontan und expressiv zu sein und auf jede expressive
Aktion eine expressive Antwort folgen zu lassen", sagt Beuger und
lacht: "Auf die Dauer wurde das natürlich ausgesprochen
langweilig".
Im allgemeinen Tauwetter von 1989/90 begegnete ihm dann seine heutige
Frau. Zusammen verließen sie die bröckelnde Kommune,
begannen in Düsseldorf ein neues Leben und Beuger fing wieder
an,
zu komponieren. Anders als zu Hochschulzeiten schuf er darin einfach
jene Situationen, nach denen er sich am dringlichsten sehnte:
Zeiträume zum genauen Hinhören und Zuhören;
klangliche
Ereignisse, die die Aufmerksamkeit aus den Sümpfen innerer
Befindlichkeiten herausziehen; Zustände, in denen man sich die
Zeit gibt, die Eindrücke in sich nachwirken zu lassen; - und
jenseits des Extrovertierten und Expressiven entstand eine bebende
Intensität und Vitalität.
Beuger wunderte sich selbst über die große intuitive
Sicherheit, die er bei seinem Rückgriff auf seine jugendliche
Visionen verspürte und fast noch mehr über den
äußeren Erfolg: 1990 beim
Ensemblia-Kompositionswettbewerb
der Stadt Mönchengladbach, 1991 beim Internationalen
Kompositionsseminar Boswil, 1992 beim Forum junger Komponisten des WDR
Köln. Für die Donaueschinger Musiktage 1995 erhielt
er einen
Kompositionsauftrag vom Südwestfunk, und zwei Jahre
später
wurde in Donaueschingen sein Orchesterstück fourth music for
marcia hafif (3) uraufgeführt. Beim 6th International
Kazimierz
Serocki Composers Competion, 1998 in Warschau, bekam er den zweiten
Preis.
"Menschen, die meine Musik gehört haben, sagen mir immer
wieder,
dass sie sich darin verstanden fühlen", sagt Beuger. Das mag
daran
liegen, dass seine Klang-Kunstwerke ganz bewusst aus sich herausweisen:
Im Mittelpunkt von Beugers künstlerischem Interesse steht, was
seine Aktionen in denen auslösen, die sich mit ihnen
beschäftigen.
Der Theoretiker und Komponist, der Beuger in diesem Konzept schon in
früher Zeit und später immer wieder am nachhaltigsten
beeindruckt und inspiriert hat, war John Cage (1912-1992). "Dabei
wollte ich Cage natürlich niemals nachmachen. Aber mir war
klar:
je mehr ich versuche, mich von ihm abzusetzen, um so mehr werde ich ihn
unbewusst imitieren. Wenn ich jedoch versuche, seine Verfahren so genau
wie möglich nachzuschaffen, dann werde ich merken, was der
Unterschied ist zwischen mir und Cage".
Dieser Gedankengang: Gleiches in den Raum zu stellen, um die
Abweichungen zu finden, die Reibung scheinbar gleicher
Phänomene
aneinander als Schlüssel zum Auffächern der
Verschiedenheiten
zu benutzen, ist symptomatisch für Antoine Beugers Musik: Mit
äußerst reduzierten Mitteln schafft er einen
präzis
definierten, meist ungewohnten Hörwinkel - "und darin ereignet
sich möglicherweise sehr, sehr viel", sagt Beuger. "Aber das
spielt sich dann in einem selber ab. Es ist mehr eine innere
Intensität als eine äußere".
Eine Serie von Solostücken, deren Aufführungsdauer
zwischen
45 Minuten und neun Stunden betragen kann, besteht aus dem Wechsel
zwischen drei Sekunden Klang und drei Sekunden Stille, wobei die
konkreten Klänge durch ein Zufallsverfahren aus einer
Gesamtmenge
zuvor bestimmter Klänge ausgewählt werden.
Später
schrieb Beuger Stücke, deren Partitur oft nur aus einem
einzigen
Satz bestehen, wie: "ein ton. eher kurz. sehr leise. die beiden
ausführenden haben abwechselnd 10 minuten zeit. in ihrer
jeweiligen zeit spielen sie einmal den ton oder bleiben still. das
stück dauert mehrere stunden".
"In meiner Musik gehe ich eigentlich subtraktiv vor", sagt Beuger, "und
mittlerweile bin ich der Überzeugung, dass dieser Vorgang des
Wegnehmens nie ein Ende nehmen wird. Man findet nirgends Elemente, aus
denen sich alles zusammensetzt, und die man nicht mehr teilen kann,
sondern dieser Prozess des Wegnehmens ist im Prinzip unendlich - nach
jedem neuen Wegnehmen tut sich wieder eine ganz neue Welt auf. Ich
merke das daran, dass für mich die Stille in den jetzigen
Stücken ganz anders klingt als die Stille in früheren
Stücken".
"Wenn ich in ein Konzert gegangen bin, hat mich schon immer der Moment
interessiert, wenn ein Stück aus ist und im besten Fall nicht
gleich geklatscht wird. Und es ist mein großes Interesse,
das,
was sich normalerweise außerhalb eines Stückes
ereignet, in
die Musik hineinzuholen", sagt Beuger. Und so ist es, als
würde er
seine Stücke aus lauter Enden zusammensetzen - aus Zeiten der
Stille im Schatten verschwundener Klänge, die im inneren Raum
des
Hörers weiterwirken.
11.03.1999
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Doris Kösterke
Neunstündige
Insel
Der Kölner Künstler Mauser hat die 521 Strophen der
"Lieder
der Nonnen aus dem Garten Gautamo Buddhos", eines buddhistischen Textes
aus dem Pali-Kanon, in kalligraphischen Lettern auf 11 schwere
Büttenbögen im Format 1,30 mal 2,30 geschrieben - und
ausradiert.
Das Ausradieren war für Mauser nur zu konsequent. Denn das
Abschreiben, so sagte er, sei für ihn eine intensive Form der
Auseinandersetzung mit dem Textinhalt gewesen. Der vermittelte ihm den
Wert des Schweigens. Deshalb sollten auch die Bilder schweigen. - "Das
Ausradieren war mindestens genau so viel Arbeit, wie das Schreiben",
sagte Mauser.
Die Leere, die Stille als Produkt einer aufwendigen Leistung zu
begreifen war ein Schlüssel, um auch mit der mehr als neun
Stunden
füllenden Komposition von Antoine Beuger etwas anfangen zu
können, die in Mausers Atelier vor den ausradierten
Büttenbögen aufgeführt wurde. Beugers aus
dem garten ist
Mauser gewidmet und bezieht sich auf dessen Werk.
Der Notentext zu diesem Stück "für zwei
ausführende" umfaßt nur 6 Textzeilen:
"ein ton. / eher kurz. / sehr leise. / die beiden ausführenden
haben abwechselnd
10 minuten zeit. / in ihrer jeweiligen zeit spielen sie einmal den ton
oder bleiben still. / das stück dauert mehrere stunden".
Die Uraufführung besorgten die holländische
Sängerin Patricia van Oosten und Beuger selbst mit der
Flöte.
Der Anfang des Stückes lag im Unklaren: Antoine Beuger
saß
schon eine ganze Weile auf seinem Stuhl, als die Tür zum
Atelier
geschlossen wurde. Patricia van Oosten kam nach, verglich ihre Stoppuhr
mit Beugers und setzte sich auf ihren Platz. Keine dieser Handlungen
gab Auskunft darüber, ob das Stück damit nun begonnen
hätte, oder nicht. Aber die Atmosphäre begann sich zu
verdichten: Im Bewußtsein, daß da etwas geschah,
das man
Gefahr lief zu stören, schlossen Hinzukommende leise die
Tür
hinter sich und schlichen auf Zehenspitzen zu einem freien Platz.
Verkehrsgeräusche, unglaubwürdig laut lachende
Menschen im
Garten vor dem Atelier - die Tür war zu, und damit
fühlte man
sich alledem vorübergehend enthoben. Schopenhauer schien zu
grüßen, und natürlich John Cage, der Beuger
über
weite Strecken seines Lebens immer wieder am nachhaltigsten beeindruckt
hat.
An der Grenze der Hörbarkeit erschien ein Ton von Antoine
Beuger.
Geschärft durch die feinen, völlig
unregelmäßigen
Schwingungen dieses Flötentons widmete sich die Aufmerksamkeit
umso stärker den Lauten der Stille. Der Abstand zum Alltag
vergrößerte sich zusehends und die Augen
lustwandelten
über die schweren Büttenbögen aus Mausers
Arbeit an den
Wänden: hier und da war noch ein Stückchen Wachsstift
übriggeblieben. Vertiefungen im Papier zeugten von der Kraft,
mit
denen es einmal beschrieben worden war.
Anlaß, sich hier eingefunden zu haben, war, daß
zwei Leute
etwas taten. Aber dennoch kamen Patricia van Oostens Kopftöne
immer wieder unerwartet, wie unwirklich, und dabei mit so reicher
Körperresonanz, so rund, so weich, so luftig, daß
man sich
schon auf den nächsten freute.
Das Abenteuer des Stillseins konnte man zu jeder Zeit unterbrechen,
wärend das Stück seinen weiteren Verlauf nahm. Der
Verlockungen dazu waren viele: das schöne Wetter
draußen,
die in der Laube aufgestellten Speisen und Getränke und vor
allem
die Neugier, wer die anderen Menschen waren, die sich zu dieser in
landläufigem Sinne doch recht ausgefallenen Form der
Freizeitgestaltung hier eingefunden hatten. Eine Zeit lang wirkte die
heiter gelassene Aufmerksamkeit wie ein aus Energiefäden
gesponnenes Netz. Aber nach etwa 5 1/2 Stunden begann die Frage, ob
Beuger hier nicht einfach nur um des Auf-Die-Spitze-Treibens willen
etwas auf die Spitze trieb, doch unerträglich zu
drängeln.
Für ihn sei immer besonders interessant, wie ein
Stück
aufhört, hatte Antoine Beuger einmal gesagt, und etwa zwanzig
Minuten vor dem erwarteten Schluß der Aufführung
steigerte
sich die Aufmerksamkeit der Zuhörer zu einer ungeahnten
Intensität. Ob die beiden Ausführenden ihren Ton von
sich
geben würden, oder nicht, wann er kommen und wie er sich
gestalten
würde, war den ganzen Tag über eine spannende Frage
geblieben. Nun widmete man sich ihr wie einem seltenen Besucher, der in
wenigen Minuten abreisen würde. Eine besondere Delikatesse
war,
daß niemand recht wußte, wie lange genau das
Stück
gehen würde. Die Zusammengekommenen verharrten jedoch auch
dann
noch für etwa zwanzig Minuten im Schweigen, als das
Stück
ganz eindeutig zuende war.
Ein Stück Wahrnehmungs- und Bewußtseinskunst -
zweifellos.
Aber wie steht es mit den handwerklichen Aspekten dieser Komposition? -
"Die Komposition ist eine Konsequenz aus meiner Arbeit der letzten acht
Jahre", sagte der 1955 in den Niederlanden geborene Komponist. - "Was
ich eigentlich schon immer wollte, war auf der einen Seite viel Stille,
und auf der anderen Seite eine große Variationsbreite
innerhalb
der Klangereignisse", sagte er. "Vor etwa vier Jahren habe ich noch,
aufgefächert nach möglichst vielen Merkmalen, genau
angegeben, wie welcher Ton klingen soll. Aber dann habe ich gemerkt,
daß ich mir um die Verschiedenheit der Klänge keine
Gedanken
machen muß, wenn ich die Situation präzis genug
festlege,
aus der heraus sie entstehen. Einerseits schaffe ich ein
gleichbleibendes Raster, auf dem die Verschiedenheiten als solche
erfahrbar werden", sagte Antoine Beuger. "Und andererseits formuliere
ich die Bedingungen so, daß das herauskommt, was ich
hören
möchte. Zum Beispiel steht da die Formulierung 'eher kurz',
weil
die Singstimme einige Zeit braucht, um ihren Ton leben zu lassen. Bei
der Flöte ist es anders. Da erreicht man die
größtmögliche Verschiedenheit der
Klänge, wenn man
nicht recht im Spiel drin ist". Was ihm das Wichtigste gewesen
wäre? - "Daß ich für neun Stunden meine
Ruhe hatte. Ich
war wie auf einer Insel". - Auf einer neunstündigen Insel im
reißenden Strom des Gelebtwerdens.
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Doris
Kösterke:
Starke stille
Gäste -
Aus der
Umgebung von John Cage
(Leicht gekürzt erschienen in der Frankfurter Rundschau Nr.
124, Pfingsten 1998, S. M 13)
Musikkritikerohren sind manchmal wegen Überfüllung
geschlossen. Dann erfährt der dazugehörende Mensch
sich
selbst als brüllende Revolte gegen alle mit Gedankenschmalz
polierten musikalischen Bastelarbeiten, alle netten koketten
Stückchen und alle in Herzblut gesottenen
Äußerungen
komplizierter Seelen, die unschuldig danach winseln, verstanden und
gewürdigt zu werden. In einer solchen Situation begegneten mir
die
ersten acht CDs der Edition Wandelweiser. Sie erzählten mir
keine
dramatischen Geschichten. Sie waren einfach da, ruhten in sich selbst
und schenkten damit auch mir die Freiheit, endlich einmal bei mir zu
sein. In dieser Sparte des nicht-gewinnorientierten Berliner
Unternehmens Timescraper Music haben sich wesensverwandte Komponisten
zusammengefunden, die neben eigenen Werken auch denen ihrer geistigen
Vorfahren Gehör verschaffen: Cage, Lucier und Wolff.
Die Serie beginnt mit einer vom Akkordeonisten Edwin Alexander Buchholz
eingespielten Doppel-CD. Das erste Stück ist die Cheap
Imitation
(1969) von John Cage (1912-1992), eine im wesentlichen einstimmige
Komposition, die Cage mittels Zufallsverfahren aus der Singstimme des
Socrate von Erik Satie abgeleitet hat. Dieses Stück
öffnet
eine Dimension, die über die Musik hinausweist. Nicht mit
einem
konventionellen Herangehen an Musik läßt sie sich
nicht
greifen, am allerwenigsten vom musikalisch-Handwerklichen her.
Kompositionstechnisch mag nun wirklich manch einer behaupten: "das kann
ich auch". Aber darauf kommt es hier nicht an. So schreibt Edwin
Alexander Buchholz: "Ich merke, daß es mir gut tut, diese
Musik
zu spielen, da sie mir die Möglichkeit gibt, in mich
hineinzuhören und gleichzeitig die Klänge meines
Instrumentes
und die der Umwelt intensiver wahrzunehmen". - Nicht das Was? des
vermittelten Stückes, sondern das Wie? des Wahrnehmens wird
zum
Gegenstand der künstlerischen Arbeit.
In Here 2 (1996) des 1961 geborenen Amerikaners Michael Pisaro
verschmelzen Akkordeon und Flöte zu einem Klang. "Das eine
Instrument setzt irgendwann im Klang des anderen etwas in Bewegung.
Wann genau das passiert, ist nicht wahrnehmbar: wenn man es wahrnimmt,
ist die Bewegung schon da" kommentiert Antoine Beuger die
Intensität des Hier und Jetzt. Ein ausgesprochen
schönes
Stück ist das darauf folgende Sam Lazaro Bros (1984/90) des
1953
geborenen Schweizers Jürg Frey. Rhythmisch wenig differenziert
ist
diese Aufnahme ein ruhiges Akkordeon-Atmen in Mollklängen, das
kein Ziel hat außer sich selbst. Die Klänge sind,
und
irgendwann sind sie nicht mehr. Das ist der Moment, wo man als
Zuhörer innerlich Amok läuft, weil man mit jeder
Faser seines
Körpers diese Klänge zurücksehnt. Es spricht
für
die dramaturgische Klugheit und Sensibilität der Produzenten,
daß diese CD mit diesem Stück aufhört, und
nicht mitten
im Aufruhr ein neues beginnen läßt.
Die knapp 64 Minuten der zweiten CD füllt die geschichte des
sandkorns (1992) des 1955 geborenen Antoine Beuger. Stark vom Vorbild
Cage geprägt, verwendet die Komposition alle Sorten von
Klängen, die auf dem Akkordeon entstehen können. Weil
auch
die mit dem Ein- und Ausschalten von Registern verbundenen
Geräusche als selbständige musikalische Elemente
behandelt
werden, ist für den Solisten selbst nicht vorhersehbar, wie
der
nächste konventionell gespielte Ton klingen wird. Wem es
gelingt,
in dichten, bisweilen mechanistisch anmutenden Phasen dieses Werkes
seine innere Ruhe zu bewahren, schafft es auch in Gegenwart eines
Zappelphilipps.
Denn Stille ist bekanntlich ein eher hörpsychologisches als
ein
akustisches Phänomen. - "Wird Stille erst durch ihre
Unvollkommenheit natürlich?" fragt sich auch Toningenieur
Peter
Hecker. Immer wieder nimmt er in den Booklets zu tontechnischen
Besonderheiten der jeweiligen Aufnahmen Stellung und fügt
damit
dieser Serie eine ausgesprochen audiophile Dimension bei.
Auch die pastellfarbenen Arbeiten der über
siebzigjährigen
schweizer Künstlerin Ida Maibach auf den
Titelblättern der
Booklets sind Einladungen von Nuancen an die Wahrnehmung. - Im Zentrum
der meisten Bilder findet sich ein Quadrat: "Mein Zufluchtsort? Mein
innerer Raum?" fragt die Künstlerin sich selbst im
rhythmischen
Prozeß des Malens.
Die dritte CD, Musica Brasileira De(s)composta von Silvia Ocougne und
Chico Mello unterscheidet sich schon von der optischen Gestaltung her
von den anderen der Serie. Den beiden in Berlin lebenden
brasilianischen Multi-Instrumentalisten liegt die
südamerikanische
Folklore ebenso im Blut wie die Lust am Experimentieren. Ein
temperamentvolles Rasgueado wird von einem Schrubbeln davongetragen.
Ein virtuoses Simultanspiel erfolgt auf gegeneinander verstimmten
Gitarren. Ein Romanzen-Duo eskaliert zum Duell, und unter den
Flügeln spielerischer Daseinsfreude wird man den Verdacht
nicht
los, daß die beiden da etwas machen, von dem sich ihnen
selbst
vielleicht Jahrzehnte später eine minigruppendynamische
Bedeutung
erschlieáen mag.
Die vierte CD birgt das radikalste Werk der Serie: Stones von Christian
Wolff (aus Prose Collection, 1968-74). Die Partitur zu diesem allein
aus Geräuschen von Steinen zu schaffenden Stück
besteht aus
wenigen Textzeilen, die der Interpretation festumrissene
Spielräume geben. Sieben Komponisten des Wandelweiser
Komponisten
Ensembles, Antoine Beuger, Jürg Frey, Chico Mello, Michael
Pisaro,
Burkhard Schlothauer, Kunsu Shim und Thomas Stiegler, vereinbarten eine
Gesamtlänge von etwa 70 Minuten, in denen jeder 10-20
Ereignisse
gestalten sollte. Manche der Komponisten machten sich dafür
einen
genauen Zeitplan, andere gaben sich Regeln wie "Ereignis E tritt ein,
wenn zwei Mitspieler gleichzeitig einen Klang machen" (unter
Umständen also gar nicht). Für den Hörer
läßt
sich nur dann und wann ein leises Steingeräusch vernehmen, als
wollte es sagen "Ich bin da, aber laß dich durch mich nicht
stören". Doch diese zarten klingenden Gäste sind viel
zu
faszinierend, als daß man sie ignorieren wollte. Ihre
filigrane
Vielschichtigkeit bewirkt, daá man seine allersensibelsten
Antennen ausfährt. So schaffen diese stillen Gäste
ein
enormes Kraftfeld, eine Atmosphäre der Aufmerksamkeit und
Behutsamkeit, die die Dauer ihres Besuchs aus jeder Unverbindlichkeit
heraushebt.
Die fünfte CD ist drei Kompositionen des in Zürich
lebenden
Komponisten, Improvisators und Musikjournalisten Alfred Zimmerlin
gewidmet. Auf konzeptionell nicht unvertraute Weisen thematisiert er
die gegensätzlichen Bereiche des improvisierenden Musikers und
des
vorschreibenden Komponisten. Darüber hinaus spielt er,
besonders
im Klavierstück 5, mit (tonalen) Hörgewohnheiten,
Hörerfahrungen und Hörerwartungen. - Nichts
für Leute,
die diese Erwartungshaltungen nicht kultivieren.
Die von dem vielversprechenden, 1968 geborenen Violinisten Clemens
Merkel eingespielte sechste CD verbindet die sich durch Pausen
tastenden Gänsehautanflüge der unwritten page von
Antoine
Beuger mit der gewaltig expressiven Sonate für Violine Solo
op.14
von Wolfgang von Schweinitz, das Piece pour Ivry von Bruno Maderna (das
für meine überreizten Musikkritikerinnenohren noch
immer
nicht leicht und tänzerisch genug klingt) und den
Kammerkomplex
von Thomas Stiegler, in dem sich die Weiten violinistischer
Klanglandschaften zu etwas verdichten, das im Kontext dieser Serie wie
Neue-Musik-Standardsound wirkt. - "Ich bin ein Freund der Kontraste,
der Vielfalt, des Nebeneinanders verschiedener Erscheinungsformen",
schrieb Clemens Merkel über sich. Die bei den Aufnahmen
anwesenden
Komponisten und der Tonmeister plädierten einhellig
dafür,
die Verschiedenheiten eher noch durch verschiedene
Aufführungsorte
und Mikrophonierungen zu unterstreichen. Hierin zeigt sich das Label in
einer Offenheit, die einfach toll ist.
Die letzten beiden CDs wurden von dem schweizer Klarinettisten
Jürg Frey eingespielt. Die dialogues (silences) von Antoine
Beuger
sind fast tonlos. Dann und wann huscht ein Melodiefragment durch die
Stille, als fürchte es, sie zu verdrängen und weist
gerade
dadurch umso stärker auf sie hin. Das Zusammensein mit diesen
Klängen habe ich besonders dann genossen, wenn es um mich
herum
alles andere als ruhig war. Es vermittelte mir eine so
unerschütterliche Ruhe, als wüchsen mir Wurzeln bis
zum
Mittelpunkt der Erde. Im Vergleich dazu beginnt Music for One (1984)
von John Cage geradezu zupackend. Aber die zentrale
ästhetische
Aussage ist laut Antoine Beuger in beiden dieselbe: "Gleichmut".
Spiele mit den Eigengesetzlichkeiten der Wahrnehmung stehen bei den
Wandelweiser-Komponisten immer wieder zur künstlerischen
Debatte,
besonders aber in der letzten CD: In In Memoriam Jon Higgins (1987) von
Alvin Lucier scheinen die Schwebungen zwischen dem konstanten
Klarinettenton und dem sich graduell aufwärtsbewegenden
Sinuston
schneller zu werden, wenn die Töne sich einander
annähern,
und langsamer, wenn sie sich voneinander entfernen. Drei
Stücke
von Christian Wolff untermauern seine These, daß alles, was
man
im festgefügten Nacheinander arrangiert, Töne,
Geräusche, Gesten, sich letztlich zu einer Melodie verbindet.
Burkhard Schlothauers Stück aus atem für
Baßklarinette
ist eine 22 Minuten und 22 Sekunden dauernde Ausstellung von
Fundstücken aus den Grenzgebieten zwischen
(Atem-)Geräusch
und Klang. Jedem mehr oder weniger ausgedehntem Exponat ist ein
Zeitraum zuerkannt, in dessen Vorher und Nachher das jeweilige
Klangereignis seine Resonanz im Zuhörer entfalten kann. In der
Interpretation von Jürg Frey ist dieses Stück weit
mehr als
nur ein akustisches Museum. Es ist wie eine sehr persönliche
poetische Darstellung, und manchmal auch nur ein leises Erbebenlassen
der Haut.
Mit in unregelmäßigen Abständen sich
abwärts
tastenden Tonfolgen beginnt Mit Schweigen wird's gesprochen
für
Bassklarinette von Jürg Frey, das er selbst eingespielt hat.
Manchmal halten sie wie fragend inne und scheinen in die sich
anschließende Stille zu lauschen. Manchmal formieren sich
melodiöse Floskeln, die an Hornquinten erinnern
können, oder
sehr vage an die eine oder andere alpenländische Volksweise.
Das
alles geschieht ohne jede Penetranz, wie aus weiter Entfernung oder
ferner Erinnerung. Über Zirkularatmungsklängen
breiten sich
ganze Obertonlandschaften aus. Gegen Ende des Stückes scheint
sein
Anfang noch einmal aufs zarteste aufzuleben. Und wenn das
Stück
zuende ist, klingt es noch lange nach.
Edwin Alexander Buchholz, accordeon; Normisa Pereira da Silva, flute.
Cage . Pisaro . Frey . Beuger. EWR 9601/2.
Musica Brasileira De(s)composta. Silvia Ocougne & Chico Mello.
EWR 9603.
Christian Wolff,Wandelweiser Komponisten Ensemble: Stones. EWR 9604.
Alfred Zimmerlin. Dünki . Frey . Aeschbacher . Capt . Hefti .
Moster. EWR 9605.
Maderna . Beuger . von Schweinitz . Stiegler. Clemens Merkel, violin.
EWR 9606.
Beuger . Cage. Jürg Frey, clarinet. EWR 9607.
Lucier . Wolff . Schlothauer . Frey. Jürg Frey, clarinet/bass
clarinet. EWR 9608.
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Manuskript
für SWR 2 - Musik Spezial -
JetztMusik, 5.7.99
Eine Sendung von Doris Kösterke
"... die ich
dringend brauche ..."
Musik- und
Lebensart der Wandelweiser
[Klangbeispiel -
Antoine Beuger: unwritten page. Clemens Merkel, Violine. CD EWR 9606 LC
2174.].
[O-Ton Antoine Beuger in einem sehr leisen Gespräch mit D.K]
ANTOINE BEUGER. "... eine ganz wesentliche Eigenschaft des Klanges ist,
daß er verschwindet. Und das ist auch die Eigenschaft des
Klanges, die mich eigentlich immer am meisten beeindruckt hat:
daß ein Klang im Klingen verschwindet.
[Klangbeispiel].
ANTOINE BEUGER: ... Also bei mir liegt [...] die Hauptaufmerksamkeit
nicht so sehr auf das, was passiert während des Lebens des
Klanges, sondern was passiert wenn der Klang aufhört. Also das
kann ich daran festmachen, daß die meisten Klänge in
meinen
Stücken kurz sind. Das heißt, man hat gar nicht so
viel Zeit
zu verfolgen, was alles passiert [...] während der Klang
klingt,
weil: dann ist er schon weg. Es ist sehr selten, daß
Klänge
vorkommen in meiner Musik, die länger sind als, ein paar
Sekunden
[Pause]
DORIS KÖSTERKE: Das klingt so, als wäre für
dich das Verschwinden des Tones schöner als sein Dasein.
ANTOINE BEUGER: [lacht: hähä!] Ja, irgendwie
fällt das zusammen. [...].
Das entscheidende Erlebnis des Hörens ist ja, [...]
daß ich
gerade etwas gehört habe. Also wenn man etwas hört,
dann hat
man es eigentlich gerade gehört. Und gewissermaßen
besteht
das Leben eines Klanges darin, zu verschwinden, dagewesen zu sein -
doris kösterke: - und der Reiz der Musik im Sich-Erinnern an
das, was gerade geklungen hat?
ANTOINE BEUGER: Ja, erstens, und zweitens sich mit der Welt zu
beschäftigen, also von daraus sich mit allem, was da ist und
was
natürlich um einen herum immer klingt, zu
beschäftigen aus
der Perspektive des eben erfahrenen [...] Klanges heraus". "es ...
ändert ... auch, wie man alles sonst erlebt. [...] Auf einmal
sehen die Bäume anders aus und [...] ja, es ist anders, an
einem
Tisch zu sitzen und ein Buch zu lesen. [...]
doris kösterke: Das war ja auch immer das, was mich an Eurer
Musik
so beeindruckt hat; daß die Menschen anders miteinander
umgehen,
nachdem sie sie gehört haben. Also: Man würde nicht
... Es
würden nicht alle durcheinanderreden in der Kneipe.
ANTOINE BEUGER: Aha? Ja. Kann ich eigentlich nur bestätigen
[...].
doris kösterke: Ist das bei dir auch beabsichtigt: so 'ne Art
missionarisches Gegenübertreten?
ANTOINE BEUGER: [Pause] ... schwierige Frage.
doris kösterke: Oder etwas Selbstmissionarisches:
daß du in
deiner Musik etwas macht, das du einfach selber gut gebrauchen kannst?
ANTOINE BEUGER: Das auf jeden Fall, ja. Das ... - In der Musik schaffe
ich natürlich Situationen, die ich sonst nicht finde. Und die
ich
- die ich dringend brauche - [Pause]. Und - ich gehe dann mal davon
aus, daß es mit mir noch ein paar Leute gibt, die vielleicht
eine
Sehnsucht nach solchen Situationen haben. Und wenn die sich finden,
dann [lacht:] dann trifft sich das!".
Wandelweiser insgesamt
Der niederländische Komponist Antoine Beuger, mit dem ich
dieses
Gespräch geführt habe, - und aus dessen Komposition
"unwritten page" die Eingangsklänge zu dieser Sendung
stammten, -
ist der menschliche Mittelpunkt einer Gruppe von derzeit elf
Komponisten im Alter von anfang Dreißig bis mitte
Fünfzig,
deren Musik in der "Edition Wandelweiser" in Berlin verlegt wird. Diese
Sparte innerhalb des "nicht-gewinnorientierten" Musikunternehmens
timescraper music wurde 1992 von Burkhard Schlothauer in Zusammenarbeit
mit Antoine Beuger gegründet, um dieser doch recht
ausgefallenen
Klang-Kunst ein Forum zu schaffen.
Was diese elf Komponisten darüber hinaus miteinander
verbindet, ist nicht so ohne weiteres greifbar.
Einer von ihnen, der in Essen lebende Kunsu Shim, formuliert die
Gemeinsamkeiten äußerst vorsichtig, um die
Individualität jeder einzelnen
Komponistenpersönlichkeit
innerhalb dieser Gruppe zu unterstreichen:
"ich persönlich vermute, daß die gemeinsamkeit von
den
"wandelweiser-verlags-komponisten" ist, daß wir alle mehr
oder
weniger die [...] eurozentrale - chromatisch und seriell orientierte -
neue musik einfach "alt" und nicht "neu" empfinden".
Und der schweizer Komponist Jürg Frey schrieb über
die "Wandelweiser":
"Ich sehe uns alle als Einzelgänger, aber zu meiner Freude,
und zu
meinem Erstaunen, können diese Einzelgänger oft sehr
substanzreich, und auf den verschiedensten Ebenen, untereinander in
Beziehung treten".
"So gibt es viele intensive Gespräche, aber die treffendsten
Äusserungen zu dem Werk eines Kollegen passieren doch in den
neuen
Stücken, die (oft in tiefen Schichten, die an der
Oberfläche
nicht sofort wahrnehmbar sind) einen Dialog untereinander
führen".
Es folgt ein Ausschnitt aus Jürg Freys knapp
siebzehnminütiger Komposition "Mit Schweigens wirds
gesprochen"
für Baßklarinette, die er selbst spielt.
[Jürg Frey: "Mit Schweigens wirds gesprochen" 11'00" bis
13'17"]
Mir, als Außenstehende, scheint für die meisten der
"Wandelweiser" typisch zu sein, daß sie im Wesentlichen von
der
bildenden Kunst, von Literatur, Performance, Video-Kunst oder
Philosophie inspiriert sind, und traditionell musikalische Aspekte eher
mittelbar einfließen lassen.
Manche berufen sich explizit auf John Cage, manche nehmen für
sich in Anspruch, über ihn hinauszugehen.
Um den Ansatz ihrer kompositorischen Arbeit zu veranschaulichen,
stellen sie immer wieder Bezüge zu Meister Eckhart her, oder
zur
chinesischen Ästhetik, oder zu Gilles Deleuze's Buch
Différence et répétition.
Oder sie sprechen von bildenden Künstlern:
Von der amerikanischen Malerin Marcia Hafif beispielsweise, deren
monochrome Bilder die Farbe selbst thematisieren. Oder von der
schweizer Künstlerin Ida Maibach, deren
regelmäßige
Strichmuster auf das differenzierte Spiel der Variationen innerhalb des
scheinbar Gleichförmigen verweisen.
Oder sie sprechen von dem Kölner Künstler Mauser:
eines
seiner Projekte im vergangenen Jahr bestand darin, die 521 Strophen
eines buddhistischen Textes aus dem Pali-Kanon in kalligraphischen
Lettern auf schwere Büttenbögen zu schreiben - und
auszuradieren. Denn das Abschreiben war für Mauser eine
intensive
Form der Auseinandersetzung mit dem Textinhalt gewesen. Der hatte ihm
den Wert des Schweigens vermittelt. Also sollten auch die Bilder
schweigen.
Wie Mauser in diesen Bildern, so thematisieren auch die Wandelweiser
die aktive Leistung des Schweigens und den Begriff der Stille. Kunsu
Shim berichtete von einem öffentlichen Gespräch
über den
Begriff "Stille" (Teilnehmer waren Mauser, Antoine Beuger und er
selbst), in dem sie sich auf keinen gemeinsamen Nenner hatten einigen
können.
Der in Berlin lebende Burkhard Schlothauer schreibt:
Stille ist "ein ... im akustischen Sinne auf unserem Planeten nicht
wirklich existierendes Phänomen. Vielleicht ist eher
Ereignisarmut
gemeint (wenn ich aufs Land fahre finde ich dort "Stille", geringere
Dichte von Energien, von Körpern, die sich bewegen,
Druckwellen
produzieren)".
Und als Jerôme Noetinger den in Wien lebenden Radu Malfatti
fragte, wie er denn die Pausen in seine Kompositionen brächte,
schrieb er:
"früher mit tippex und radiergummi, jetzt mit der
taste"delete".
ich habe mich immer wieder ertappt, bei der
überprüfung einer
meist fertigen partitur elemente darin zu finden, die ich selber als
sehr fragwürdig, bisweilen störend empfand. diese
habe ich
dann meistens einfach ausradiert, um sie durch nichts anderes zu
ersetzen. dadurch bekam ich eine ruhe in die stücke, die ich
insgeheim immer schon wollte, aber nicht von vornherein fähig
war
- oder nicht den mut hatte - , zu realisieren".
Der schweizer Komponist Jürg Frey unterscheidet zwischen
"Stille"
und "Pausen": Stille könne auch da sein, wo Klänge
sind. Und
mit den Pausen in seiner Musik verhalte es sich so, als würde
man
bei etwas, das man normalerweise mit vier Schrauben befestigen
würde, mit zwei Schrauben auskommen - wobei die zwei Schrauben
möglichst noch besser halten sollen, als die
ursprünglichen
vier. - Ähnlich vielleicht, wie eine in filigranen
Bögen
gebaute Brücke tragfäger sein kann als eine massiv
gemauerte.
Für den in Berlin lebenden Carlo Inderhees gehört das
Wort
"Stille" in die Hitliste der durch Abnutzung bedeutungslos gewordenen
Wörter - ähnlich, wie das Wort "ganzheitlich". Aber
wenn
schon von Stille die Rede sein soll, dann möchte er es als
eine
innere Ruhe verstanden haben, die man auch dann - oder gerade dann
bewahrt, wenn die Situation um einen herum alles andere als ruhig ist.
Und er weist darauf hin, daß in so einem Falle die
Herstellung
von Stille im Bewußtsein knallharte Arbeit ist. Auf einen
weiteren Aspekt verweist Burkhard Schlothauer, wenn er schreibt:
"Freisetzung" empfinde ich auch, innerliches Verstummen,
Sprachlosigkeit, sich lösen, frei werden, Zeit haben, wirklich
Zeit haben".
Tatsächlich beginnt das Hören von Wandelweiser-Musik
mit der
Entscheidung, sich Zeit zu nehmen; sich einen Freiraum zu setzen, in
dem unerwartete Erlebnisse die Zeit haben, in einen einzusickern.
Die meiste Musik, die von den "Wandelweisern" geschrieben wird, ist
leise. Doch Radu Malfatti weist darauf hin, daß "leises" auch
durchaus etwas lauter sein kann:
"... es ist richtig, dass ich mich als als reaktion auf die akustische
Umweltverschmutzung zur zeit mit der sogenannten leisen musik
beschäftige, die aber nicht meditativ oder gar
religiös sein
sollte, sondern eher eine fröhliche gelassenheit darstellen
will.
"leise" heisst aber auch nicht ausschließlich an der
hörgrenzschwelle, sondern bedeutet eine ruhig
dahinfließende
musik, frei von [... krampfhaft aus dem 19.jahrhundert
herübergezerrten] dramatischem auf- bzw. abbau".
[...] "leise"
will also nicht mit pastell-klangfarben [...] die gehirne der
konsumenten verkleben. auch bilder von marcia hafif oder ida maibach
sind leise, auch wenn sie manchmal laute farben verwenden. ich kann mir
folglich auch eine ruhige musik mit lauten modulen gut vorstellen
[...], wenn nur genügend pausen vorkommen ..."
Als "ruhige(n) musik mit lauten modulen" folgt nun "die Temperatur der
Bedeutung" für Posaune Solo von Radu Malfatti, der seine
Komposition selbst spielt:
[einblenden]
historische Einblendung 1: Schönbergs Verein für
musikalische Privataufführungen
Daß Künstler zusammenarbeiten, deren Fragestellungen
ähnlich gelagert sind, ist nicht neu. Man denke beispielsweise
an
"Die Brücke" oder die Gruppe "Der Blaue Reiter".
[Alban Berg: Klaviersonate op.1, gespielt von Glenn Gould. CD SMK
52661, LC 6868, track 1.]
Die Klaviersonate op.1 von Alban Berg, hier gespielt von Glenn Gould,
verdankt ihre Uraufführung einer ganz ähnlichen
Initiative,
wie die Wandelweiser es füreinander sein wollen:
Schönbergs
Verein für musikalische Privataufführungen. Heute mag
diese
Sonate wie eine alte Bekannte wirken. Aber im öffentlichen
Wiener
Konzertleben von 1919 wäre sie kaum verstanden worden.
[langsam ausblenden - jede Stelle ist unpassend]
Mit ähnlicher Motivation wie der Schönberg-Kreis
setzen sich
auch die Wandelweiser vielfach als Konzertveranstalter
füreinander
ein und versuchen, der Musik ihrer Kollegen einen Rahmen zu geben, der
ihren Besonderheiten Rechnung trägt.
Viele Wandelweiser-Kompositionen sind viel zu lang, um im Rahmen
herkömmlicher Konzerte Platz zu finden. Andere leben geradezu
aus
dem Prozeß, in dem sie entstehen. Ein Beispiel ist das
"Keyboardstück" von Kunsu Shim: es arbeitet mit einem
Tastatur-gesteuerten Schlagzeug-Computer. Der Spieler, in diesem Falle
ist es der Perkussionist Tobias Liebezeit, legt seine Hände
für sechs Minuten still auf die Tasten. Natürlich
kann er das
nicht sechs Minuten lang aushalten, ohne doch ein bißchen zu
zittern. Und dann entstehen Klänge wie diese hier, die in
einem
merkwürdigen Spannungsverhältnis zu der Tatsache
stehen,
daß man in der Konzertsituation nichts sieht.
[Kunsu Shim: Keyboardstück. Die private DAT-Aufnahme wurde mir
von Tobias Liebezeit zur Verfügung gestellt]
Sehr glücklich über die Wandelweiser-Konzerte ist die
Komponistin Makiko Nishikaze. 1968 in Japan geboren, ist sie die
derzeit jüngste der Gruppe.
Ihr Ansatz ist die Beobachtung, wie die Hast des Alltagslebens die
Wahrnehmungsfähigkeit beeinträchtigt: "Ob wir es
merken oder
nicht", schreibt Makiko Nishikaze, "unsere Wahrnehmung wird passiv. Wir
konsumieren, ohne zu verdauen". - Gegenüber dem Sog der
Alltagshektik möchte sie in ihrer Musik "Klänge ...
schaffen,
die zum aufmerksamen Hören einladen". - "Während ich
das
gestische Repertoire meiner Musik beschränke", schreibt Makiko
Nishikaze, "bin ich stark interessiert an subtilen
Veränderungen:
der Noten, der Intervalle, der Dichte und Klangfarbe [...]. Durch all
dies versuche ich einen unvorhersehbaren Fluß zu schaffen,
der
die Zuhörer einlädt, an der Entwicklung der Musik im
realen
Moment teilzuhaben. Ich komponiere Musik, während ich mir die
Erwartungen des Publikums vorzustellen versuche, um dann mit meiner
Imagination darüber hinauszugehen".
Ihre Komposition "butterfly" aus dem Jahre 1995, die sie am 11.5.
dieses Jahres in der Akademie Schloß Solitude selbst spielte,
schildert in sehr kurzen Teilen Situationen aus dem Leben eines
Schmetterlings.
[Klangbeispiel "butterfly". Die DAT-Aufnahme des Konzertes in der
Akademie Schloß Solitude vom 11.5.99 wurde mir von Makiko
Nishikaze für diese Sendung zur Verfügung gestellt.]
Als "völlig neue Erfahrung gegenüber unserem Konzept
von Zeit
und Gedächtnis" - hatten Hörer einmal die Musik von
Makiko
Nishikaze beschrieben. Und
Zeit, Dauer und Beständigkeit
sind auch die zentralen Momente in dem von Carlo Inderhees auf drei
Jahre hin angelegten Projekt in der Zionskirche in Berlin Mitte. Dort
wird, noch bis zum Ende dieses Jahres, an jedem Dienstag Abend ab 19
Uhr 30 ein Solo-Werk von etwa zehn Minuten Länge
uraufgeführt. Gleichzeitig wird für drei Jahre eine
Skulptur
von dem jungen Münchner Künstler Christoph Nicolaus
aus
Steinen installiert, deren Anordnung wöchentlich einmal
geändert wird.
In der Zionskirche hat Dietrich Bonhoeffer gepredigt, und in den 80er
Jahren war sie ein Ort stillen Widerstandes gegen das politische Regime
der DDR. Das Wissen um diese Dinge spielt für Inderhees
durchaus
eine Rolle, wenn er sagt, daß er in diesem Raum eine
große
Energie der Stille empfindet - und das "inmitten der rastlosen Energien
der Großstadt".
Bis vor kurzem waren hier, nach guter alter DDR-Tradition, noch die
Fensterscheiben kaputt, und Carlo Inderhees fand es "phantastisch", wie
durch diese kaputten Fenster, wie er sagt: "die Welt durchging". Denn
dadurch entstand "so etwas wie eine Gleichzeitigkeit von Stille und
Welt", die er auch für sein übriges Leben anstrebt,
räumlich verdeutlicht durch die lärm- und
temperaturdurchlässige Kirche!
[Klangbeispiel aus Carlo Inderhees: Siebenundvierzig Minuten
für Orgel. Von einer selbstgebrannten CD von Carlo Inderhees.]
Dies war ein kleiner Ausschnitt aus den "Siebenundvierzig Minuten
für Orgel" von Carlo Inderhees, gespielt von Klaus Lang, in
Begleitung eines Gewitters.
In dieser Gleichzeitigkeitigkeit von Stille und Welt unterscheidet sich
die Musik der meisten der Wandelweiser von der Sehnsucht der Romantiker
nach Flucht in eine Gegenwelt der Kunst, die sich nur jenseits von
Zeit, Raum, Kausalität und Philistertum verwirklichen
ließe:
Historische Einblendung 2: Schubertiaden
[Klangbeispiel im Hintergrund:
Franz Schubert, Der Wanderer. Dietrich Fischer-Dieskau, Gerald Moore,
CD 8, track 14]
Franz Schuberts Lied "Der Wanderer" gehörte zu den ersten von
vielen, die der Hofsänger Johann Michael Vogl, von Schubert am
Klavier begleitet, "einem kleinen, aber entzückten Kreise"
vortrug, dessen Treffen als "Schubertiaden" Legende geworden sind. - In
dieser Aufnahme wird Vogl von Dietrich Fischer-Dieskau und Schubert von
Gerald Moore vertreten.
Identität und Individualität
"... das Land, das meine Sprache spricht, o Land, wo bist Du" - Diese
Frage artikulierte das Lebensgefühl hinter den Fassaden des
Metternich-Regimes, und vielleicht würde sie auch auf Chico
Mello
passen. Er beschreibt sich selbst als "europäischen
Brasilianer",
der sich in Rio de Janeiro zumindest ebenso fremd fühlt, wie
in
Berlin. Doch er macht aus seinem Leben zwischen den Kulturen eine
Tugend:
"Eine Sprache mit Akzent zu sprechen ist etwas persönliches.
Ebenso, wie Fehler zu machen. Wenn du keine Fehler machst, bist du wie
ein Automat. Aber in dem Moment, wo du etwas falsch machst, zeigst du
deine Persönlichkeit.
Ein Afrikaner hat mir einmal gesagt: "la vraie musique est la faux
musique". Dabei bezog er sich auf Europäer, die afrikanische
Musik
spielen, und das natürlich nicht "richtig machen". - Aber was
dabei herauskäme, fand er, sei eine höchst
persönliche
und sehr wahrhaftige Sache."
"Todo Canto" heißt ein Musikprojekt von Chico Mello, in dem
er
eine Italienerin, Amelia Cuni, die seine Lehrerin für
indischen
Gesang ist, und eine Inderin, Sithu Singh-Bühler die nur Opern
singt, miteinander verbindet. In dieser Überkreuz-Begegnung
behalten beide Kulturen ihre Identität - wenn sie sie nicht
sogar
noch stärker bewußt werden lassen.
[Schluß aus"Todo Canto": Schauspielhaus Berlin, 28.10.96.
Private Aufnahme von Chico Mello.]
Um ein Wahren der Individualität und Identität um
ihrer selbst willen geht es auch Kunsu Shim:
"ich denke, daß der grund der beschäftigung mit
kunst ist,
daß die welt so vielfältig wie möglich ...
erweitert
wird, um schließlich einen menschen als ganzes wieder zu
gewinnen, der durch kollektivierung, geistige demokratisierung ... oder
geschäftsmacherei verloren geht".
Historische Einblendung 3: Die Florentiner Camerata
Auch die Dichter und Musiker der Camerata Fiorentina wollten den
Menschen nicht in übergeordnete Zwänge verstrickt
wissen -
schon gar nicht im Gewirr ausgeklügelter Polyphonien.
[Klangbeispiel
Thomas Tallis: Loquebantur variis linguis]
Die Monodisten wollten die Musik als einen Spiegel für den
Menschen - und ein Spiegel sollte möglichst plan sein.
Aber ihre Zeitgenossen? -
Aus dem Blickwinkel der hohen Kunst der Vokalpolyphonie wirkte die
Musik der Monodisten schrecklich eintönig und fade. Vielleicht
hat
manch ein Kritiker sogar noch über einen Monteverdi gesagt:
"sowas
könnte meine vierjährige Tochter auch schreiben".
[Klangbeispiel: Monteverdi, L'Orfeo, CD 2, Track 4:
("... e la mia cetra, / Se pietà non impetra/Ne l'indurato
core,
almen il sonno / Fuggir al mio cantar gl'occhi non ponno")].
[Burkhard Schlothauer: "52 langsame Registerveränderungen
für
Orgel". Selbstgebrannte CD von Burkhard Schlothauer, leider nur Mono.]
Es ist eine Frage des Hörwinkels, ob man diese "52 langsamen
Registerveränderungen für Orgel" von Burkhard
Schlothauer als
"bloße Registerwechsel" auffaßt, oder als Spiel der
Obertöne und Interferenzen mit den akustischen Eigenheiten des
Kirchenraumes, die sich zu Rhythmisierungen zusammenfinden, wie sie
sich vielfältiger und - wie man manchmal sagt: "organischer"
kaum
ausnotieren ließen.
"Die Konzentration auf eine einzelne Sache offenbart letztendlich deren
Vermögen, viele Sachen zu sein".
schreibt der amerikanische Komponist Michael Pisaro ganz im Sinne der
vorangegangenen Komposition seines Kollegen. In seiner Komposition
"Here 2" schiebt sich - mal mehr oder weniger merklich - ein
Flötenton in den Akkordeonklang:
[Klangbeispiel aus Michael Pisaro: Here 2 (1996), die ersten zwei
Minuten]
Als Musik, die das Glück fühlen
läßt, zu leben,
sieht auch Carlo Inderhees die Musik der Wandelweiser, sofern sie darin
besteht, immer nur einzelne Impulse zu geben, nach denen sie das
Hörerbewußtsein wieder freisetzt.
Er beruft sich dabei auf den irisch-polnisch-französischen
Philosophen Henri Bergson und seinen Begriff der "reinen Dauer". Das
Bewußtsein kann laut Bergson zur "reinen Dauer" gebracht
werden,
wenn ein Mensch sich nicht mit etwas Bestimmtem beschäftigt,
an
nichts Bestimmtes denkt, sondern sich selbst in einem Moment
philosophischer Intuition als Werdendes erlebt:
"... die Materie und das Leben, welche die Welt erfüllen, sind
ebenso sehr in uns, die Kräfte, die in allen Dingen wirken,
fühlen wir auch in uns; welches auch immer das innerste Wesen
des
Seins und Geschehens sein mag, wir gehören dazu".
- "Ohne Zweifel vermag die Intuition sehr viele verschiedene Grade der
Intensität anzunehmen und die Philosophie sehr viele Grade der
Tiefe; aber der Geist, der zur wahren Dauer
zurückgeführt
worden ist, hat dadurch ohne weiteres Teil an der lebendigen Intuition".
Die für viele Wandelweiser-Komponisten typischen Schnitte
zwischen
Klang und Stille sind für Carlo Inderhees die Momente, in
denen
das Bewußtsein die Chance bekommt, zur reinen Dauer
zurückgeführt zu werden: Das Lauschen auf die
absichtslosen
Klänge hält das Bewußtsein davon ab, sich
von etwas
"schlucken" zu lassen; es hebt das Bewußtsein auch aus den
Sümpfen seiner inneren Befindlichkeiten heraus und verankert
es im
Hier und Jetzt. Und an dem Punkt, wo der Klang seine
Materialität
verliert, wird es freigesetzt, um in sich Stille herzustellen.
Der junge Schweizer Komponist Manfred Werder schreibt: "Meine Hoffnung
... ist die Verweltlichung des Menschen durch seine Umwelt im Moment
einer Aufführung":
Es folgen ein paar Klänge aus Manfred Werders "Stück
1998" in
einer solistischen Version von Cécile Olshausen,
Violoncello.
Eine komplette Aufführung dieses Werkes, in dem sich die
Aktionen
beliebig vieler Instrumentalisten addieren könnten,
würde 400
Stunden betragen. Das Stück gliedert sich in den Wechsel
zwischen
6 Sekunden Klang und sechs Sekunden Stille. Die Partitur ist auf kein
spezifisches Instrument zugeschnitten. Dadurch finden sich in ihr immer
wieder Aktionen, die von dem jeweiligen Instrument nicht
ausgeführt werden können, die im Verlauf des
Stückes
aber dennoch ihren Zeit-Raum behalten, so daß weitaus
längere Pausen entstehen.
[DAT-Band. Private Aufnahme von Manfred Werder, die er mir
ausschließlich für diese Sendung zur
Verfügung gestellt
hat.]
Subjektiver/objektiver Kunstbegriff
Die radikale Abkehr von einem musikalischen Werkbegriff, den dieser
starre Wechsel zwischen Klang und Stille mit sich bringt,
erläuterte Carlo Inderhees:
"Wenn ich eine Struktur baue, die Klimax und Antiklimax hat, [...] denn
- sagen wir mal: spekuliert der Komponist eigentlich darauf,
daß
die Wahrnehmung an dieser Struktur sich festmacht.
Und wenn ich einen Zustand schaffe, wo eine Stunde lang immer der
gleiche Klang erklingt und der Klang auch die gleiche Dauer hat, wie
die danach folgende Pause, dann heißt das eigentlich erstmal,
daß sich, objektiv gesehen, da nichts verändert.
Deswegen
gibt es da ja auch Schwierigkeiten, daß eben Kollegen sagen:
das
ist keine Komposition. Grundsätzlich, ne? 'ne Komposition, vom
ästhetischen Standpunkt her, braucht die Differenz. Und ich
denke
eben, daß die - wenn sich objektiv von der Komposition her
nichts
ändert, sich aber in jedem Fall subjektiv von dem Wahnehmenden
etwas verändert. Das heißt: daß die
Differenz in einer
Komposition von der Art und Weise sich von allein herstellt.
Über
das Hören halt."
DORIS KÖSTERKE: "Also daß doch der Schwerpunkt des
Kunstwerks, wenn man das mal so nennen möchte, in der
Wahrnehmung
liegt."
CARLO INDERHEES: "Klar."
Stille und Lärm haben gemeinsam, daß beide nichts
von einem
wollen, hatte John Cage einmal beobachtet. Deshalb könne man
auch
Lärm wie Stille empfinden.
Die meisten der Wandelweiser-Komponisten schreiben eine Musik, die ihre
Hörer auf sich selbst zurückwirft: in der Frage, wie
man mit
den ausgedehnten Pausen umgeht; in der Lust am Zuhören, an
einer
gesteigerten Aufmerksamkeit; oder auch in der Freude, in sich zu Hause
sein - . Die Differenziertheit ihrer Klänge schafft eine
innere
Einstellung, mit der man auch dem Rest der Welt begegnet. Manchmal
schafft diese Musik auch einfach nur Freiräume, durch die der
Ton
der Welt dringen kann - oder die eigene innere Stimme.
Thomas Stiegler: spiele im kreis
[Klangbeispiel: Ausschnitt aus "spiele im kreis" von Thomas Stiegler]
In die Abmoderation:
Auch der Schlaf kann so etwas wie ein offenes Fenster zu dem "Saum von
Instinkt" sein, der um den Verstand verblieben ist (frei nach Bergson:
er bezog sich dabei auf die Religion).
Das letzte Klangbeispiel war ein Ausschnitt aus "spiele im kreis" von
Thomas Stiegler. Es spielte das trio akkobasso mit Anja Schmiel, Oboe,
Heike Storm, Akkordeon und Eberhard Maldfeld, Kontrabaß in
einer
Aufführung im kunstraum düsseldorf am 21.9.98 [eigene
Aufnahme Doris Kösterke].
Literatur:
Henri Bergson: Die philosophische Intuition (1911). In: Denken und
schöpferisches Werden. Aufsätze und
Vorträge.
Frankfurt/M. (Syndikat) 1985, S.126-148.
3 Jahre - 156 musikalische Ereignisse - Eine Skulptur. Konzept,
Dokumentation, Presse-Mappe. Konzept und Organisation: Carlo Inderhees,
Zionskirchstr. 34, 10119 Berlin, Tel.: 030 - 440 70 47.
François Jullien: Über das Fade - eine Eloge. Zu
Denken und Ästhetik in China. Berlin (Merve) 1999.
Doris Kösterke: Starke stille Gäste. Aus der Umgebung
von
John Cage. Frankfurter Rundschau Nr.124, Pfingsten 1998, S.M13. [eine
Besprechung der ersten acht CDs aus der "edition wandelweiser"].
Chico Mello: Ladainha. In: Positionen 34, Februar 1998, S.26.
Michael Pisaro: Sensibilität herausfordern. In: Programmheft
Klangraum Klavier. Kunstraum Düsseldorf, Januar - Mai 1999.
S.18-20 (Erstveröffentlichung in: Elbe-Jeetzel-Zeitung,
Lüchow 1998).
Michael Pisaro: Ein Instrument mit vier Faltungen. In: Positionen 34,
Februar 1998, S.3f.
Volker Straebel: Kunst der Reduktion. Carlo Inderhees / Christoph
Nicolaus: garonne (24) für sich. In: Positionen 38, Februar
1999,
S.14-16.
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