Manfred Werder, 2001
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Kompositorische Entscheidungen
Es geht darum, Material und Zeit in Erfahrung zu bringen. Sie sind die eigentlichen Grundbedingungen. 4'33" von John Cage können wir als eine Aktualisierung der Grundbedingungen im Sinne einer Auflösung von Kunst hin in die Utopie eines gesellschaftlichen Entwurfs denken. Diese kurze Lücke in einer nahtlos gestalteten sozialen Oberfläche hat endgültig die Wirklichkeit und unsere Beziehung zu ihr zum Gegenstand unserer Arbeit gemacht. Die Arbeit ist zum Modell des Gesellschaftlichen geworden. Das Material in unserer Arbeit ist also einfach und gleichzeitig auch sehr komplex, da es in der Tat alles, was in einer Aktualisierung erscheint, beinhaltet. Wir erkennen nun Material klarer auch im Sinne allgemeiner Bedingungen. Ein zentraler Aspekt der Arbeit ist, diese grundsätzliche Offenheit mit wenigen Entscheidungen offen zu belassen; nicht mehr und nicht weniger, da mit jeder Entscheidung immer auch eine Perspektive und Lesart eingefügt wird. Es ist klar, dass alles, was wir denken oder in die Hände nehmen, schon etwas Vorgegebenes, Vorentschiedenes hat, dennoch müssen wir ja irgendwo beginnen. Wir sehen, dass die Reichweite der Entscheidungen deutlich hervortritt, denn wo ziehen wir die Grenze zwischen Vorentschiedenem und eigentlichen Entscheidungen? Benennen wir Material etwas genauer. Um nicht gerade bei Sauerstoff zu beginnen, denken wir an Licht, Natur und Menschen und ihr allgegenwärtiges Rauschen der Welt, Architektur als Unterteilungen im physischen Raum, Instrumente zur Klangerzeugung, Klänge. Nun arbeiten wir vorzugsweise mit natürlichem Licht und einer Architektur, die uns bei den Unterteilungen im physischen Raum die abgewandten Seiten nicht als störende oder feindliche entfremdet, weil wir wissen, dass diese Entscheidungen im eigentlichen Sinne schon kompositorische sind und also unser Nachdenken grundsätzlich verändert haben. Entscheidungen müssen sich dann in einer immer neuen Balance selber thematisieren und gleichzeitig auflösen. Sie sprechen immer über ihre eigenen und so auch über allgemeine Bedingungen der Aktualisierung, so wie sie im selben Moment nur die zu erfahrende Zeit mit 2 feinen Punkten, einem Anfang und einem Ende, markieren. Arbeit ist letztendlich Erklärungsversuch dessen, was wir vorfinden. Wir legen kleinste Eingriffe sozusagen vor Ort, oder eigentlich in die Welt, Eingriffe, die in keiner Weise Neues oder Privates in diesen Ort hineinsetzen, sondern die lediglich auf unsere grundsätzliche Verknüpfung mit dieser Welt hinweisen.
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Manfred Werder, 2005
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Das Klingen der Welt
Dieser Text ist eine leicht veränderte deutsche Fassung des Textes La musique du silence, ou le «sonner» du monde, erschienen in Chine/Europe. Percussions dans la pensée. A partir du travail de François Jullien. PUF/Quadrige:Essais/Débats, Paris, 2005, Hrsg.: P. Chartier / T. Marchaisse.
Wir können Musik als die Gesamtheit alles Klingenden denken, eine Gesamtheit, welche weit über den kleinen Ausschnitt hinausgeht, den der Mensch hört.
Die Gesamtheit alles Klingenden ist das Klingen der Welt, und wir sind Teil dieses Klingens der Welt.
Diese Musik zu hören, ihr zuzuhören, im Bewusstsein um all das Klingende, welches wir erst gar nicht zu hören vermögen und dennoch einfach da ist, denke ich, erfüllt uns mit grosser Freude, so, wie uns der Anblick einer Landschaft bewegt.
Natürlich ist diese Musik wunderschön chaotisch, und der Vergleich mit der Landschaft ist nicht so einfach, wohl weil das Hören für den Menschen stärker als das Sehen verbunden ist mit einem ersten Überleben.
Das Hören lässt den Menschen sich immer wieder in einem bedrohlichen Chaos der Welt vorfinden.
Die Erfahrung der Welt stellt sich uns jedoch auch gänzlich verändert dar.
Das bedrohliche Chaos der Welt ist soweit domestiziert, dass der Wille dieser Domestizierung zum bedrohlichen Chaos des Menschen geworden ist.
Die Tätigkeit, Klänge zu artikulieren, verweist wohl vorerst auf eine Ebene des Hörens: Auf die Ebene des Hörens, wo der Mensch sich und seine eigene Tätigkeit in Bezug auf dieses Klingen der Welt hört.
Jeder artikulierte Klang vermischt sich auf gleichzeitig allgemeine und bestimmte Weise mit dem Klingen des Ortes, wie sich auch die Tätigkeit seiner Hervorbringung und die Tätigkeit der Welt in jedem Moment vermischen.
So höre ich mit jedem Klang einen jeweils eigenen Ort sich formen, im Wirkungsfeld des artikulierten Klanges, des Ortes und mir selbst.
Diese Vermischung vermischt sich sozusagen mit mir, und ich empfinde eine wunderschöne Unendlichkeit des Klingens, Oberfläche wie Tiefe, vielleicht so, wie ich mich inmitten eines Urwaldes fühlte.
Es gibt nichts, was nicht aufeinander wirkt, folglich existiert alles in Verhältnissen zueinander.
Die Idee eines Ortes legt also noch zu stark eine isolierte Entität nahe.
Wenn ich einen artikulierten Klang, also mein Empfinden dieses Klanges höre, erscheint ein Ort -
entstehen und bewegen sich eher verschiedenste Verhältnisse zu Lebewesen und Dingen, welche mir und welche sich begegnen.
Im Aufeinanderwirken ist alles Begegnung. Der Ort meines Bewusstseins, also die Begegnung mit einer Spiegelung, lässt mich in der Tat dieser Begegnung begegnen.
Wir können ganz allgemein die ‚Aufführung von Musik‘ als Begegnung, welche eher das Hören betrifft, betrachten. Diese Vorsicht der Formulierung ist wesentlich, gibt es doch kein von allen weiteren Sinnen isoliertes Hören.
Lebewesen und Dinge begegnen sich, und ihre Sinneswelten, für den Menschen erfahrbare und nicht erfahrbare, vermischen und aktualisieren sich.
Nun geht es nicht darum, sich zu begegnen. Es gibt hier keine Funktion der Begegnung, weil Begegnung ohnehin geschieht.
In der Begegnung, welche eher das Hören betrifft, geht es des Weiteren nicht darum, jemandem eine Darbietung zu geben, sondern vielmehr um ein spezifisches Vermögen, in einem allgemeinen und bestimmten Verhältnis zu begegnen.
Dieses allgemeine und bestimmte Verhältnis, vielleicht mit anderen Worten die globale Regulierung der einzelnen Phänomene aus einem gemeinsamen Grund, ist das, was einer Begegnung erst ihre Verwirklichung ermöglicht, weil die einzelnen Phänomene als solche – und nicht als Ideen – auftauchen und wirken, um dann wieder unterzugehen.
In der Begegnung, welche eher das Hören betrifft, gebe ich also nichts, sondern aktualisiere die mich betreffenden Verhältnisse zu den Lebewesen und Dingen.
Artikuliere ich einen Klang, so ist dieser Klang als Teil der Verhältnisse genau der Klang, der in diesem allgemeinen und bestimmten Moment in einem allgemeinen und bestimmten Verhältnis seine Potentialität aktualisiert.
In der Abwesenheit artikulierter Klänge werde ich dann immer stärker in das Klingende aller Begegnung aufgelöst, erfahre mich als Welt.
Und es erscheint, im Moment eines artikulierten Klanges als Bewusstwerdung meiner selbst, indem ich diese Artikulation beobachte, der Raum meines Bewusstseins des Eigenen des Menschen: Welt sein, und diese beobachten.
Ich möchte diesen Moment immer wieder empfinden, um mich gänzlich den Qualitäten der Begegnungen hinzuwenden.
Qualitäten der Begegnungen wären eine Unentschiedenheit der Verhältnisse, aus welcher das Ereignen der Welt geschähe.
Im Ereignen der Welt wäre die Kunst gleichsam das Fest dieser Unentschiedenheit.
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