JÜRG FREY

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Weite der Landschaft – Tiefe der Zeit (2008) >
 
Raum (MusikDenken, Texte der Wandelweiser-Komponisten -Ed. Howeg 2008) >

Und weiter ging’s (KunstMusik, Heft 11 – 2008) >

Material (Positionen 38 - 1999) >

Wo ist das Stück ? (1999) >

Architektur der Stille (1998) >

Es gibt das Leben (1996) >


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The Architecture of Silence (1998) >

Life is present (1996) >
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Jürg Frey
WEITE DER LANDSCHAFT - TIEFE DER ZEIT 
Notizen1

Unbegrenzt
Ins Unendliche: In diese Richtung gehe ich als Komponist nur, wenn ich beim Schreiben von Musik nicht komponiere. Nicht-komponieren, das ist die Entscheidung, die Zeit vergehen zu lassen, ohne als Komponist einzugreifen. Alles andere geht in die andere Richtung, nämlich in die Richtung von Begrenzung, Auswahl, Strukturierung. Ich habe mich als Komponist in meiner Arbeit gelegentlich so verhalten, dass ich die Zeit sich selbst überlassen habe. Man zieht sich als Komponist zurück, die Zeit vergeht, man wartet, bis es später ist. Eine Minute, vier Minuten, neun Minuten......und so entstehen Leerstellen im Stück.

Leervolumen
Gute Aufführungsbedingungen sind dann erreicht, wenn die Leervolumen in einem Stück auch wirklich leer und still bleiben. Das schon fast reflexartige Suchen mit den Ohren nach sogenannt interessanten Umweltgeräuschen, die diese Leervolumen füllen sollen, ist eine Aktivität, um diese Leervolumen nicht zuzulassen. - Aber man kann auch die Erfahrung machen, sich in diesen Leervolumen aufzuhalten. Man soll die Leervolumen nicht verstopfen. Beim Komponieren nicht und beim Hören nicht: sie sollen offen bleiben, leicht, zugänglich, heiter.

Schweigen / Architektur
Meine Musik ist schweigsame Architektur. Sie ist wie das Schweigen eines Raumes, einer Mauer, einer Landschaft, wie Orte oder Plätze, die schweigen. Es ist schweigsame Musik, aber sie ist nicht abwesend. Sie ist nicht sprachlos, und sie bewegt sich auch nicht virtuos am Rande des Verstummens. In ihrer stillen Anwesenheit ist jedoch alles da: Farben, Empfindungen, Schatten, Dauern. Für Musiker ist es manchmal schwierig, diesen Klang zu spielen, der schweigsam ist, aber nicht tot. Dieser Klang bekommt seine Lebendigkeit und seine Ausstrahlung nicht von Gestik und Figuration. Die Musik ist schweigsames Klingen, stille Architektur.

Hören
Das Trommelfell ist für die Klänge der Eingang zu den Unendlichkeiten der inneren Welten der Zuhörer, es ist die Verbindung der Aussenwelt mit der Innenwelt. Ich stelle mir meine Klänge als Schallwellen vor, die einen Raum ganz füllen und dabei auch das Trommelfell, ja sogar die Haut eines Hörers berühren. Meine Musik könnte, obwohl sie präzis notiert ist, wie eine beiläufige und absichtslose Berührung sein. - Man kann sich eine Grenze vorstellen, und auf der andern Seite der Grenze ist der Klang nicht mehr eine Berührung, sondern eine Mitteilung. Ich frage mich, wie ein Stück klingen könnte, das nur diese Berührung wäre.

Luft und Persönlichkeit
„...der leichte frische Hauch – herbstlich und doch an den Sommer erinnernd – der der Luft Persönlichkeit verleiht“2. Dieser Hauch, der der Luft Persönlichkeit verleiht, ist meine Vorstellung von meiner Musik. Die Luft im Raum wird in Schwingung versetzt, und die Art der Klänge verleiht der Luft Persönlichkeit. Es gibt nicht einen Artisten, der den Klang hinüberbringt, – hier geht der Klang selber hinüber, wenn der Spieler ihn lässt, loslässt.

Brillanz, Präzision, Gefühl
Ich meine diese Art von Brillanz, die aus Präzision im Einsatz des Materials in Bezug auf Gefühle besteht. Es gibt dann eine Wachheit der Empfindung und man erkennt klare Lösungen, die einen atmen lassen. Vielleicht erahnen wir etwas davon in der Art und Weise, wie in Japan die Natur und die Veränderungen in der Natur thematisiert werden. Das, was die „Komposition“ ist, muss die Komposition verlassen, so dass einfach eine Empfindung im Raum ist, wie ein Duft, ein Licht, ein Schatten, ein Blick.

Hauch
Eine Musik, die im Bereich der Ahnung bleibt, ist wie ein Hauch im Raum, - und gleichzeitig hat sie eine präzise Charakteristik und eine genaue Atmosphäre. Es ist ein Hauch, der durch den Raum zieht, und der die Luft ein bisschen aufrührt, ohne Anstrengung und mit Leichtigkeit. Wie zwei Augenblicke: ein ganz sachtes Fallen, ein ganz sachtes Sich-hochziehen, eine leichte Berührung, so möchte es komponiert sein. Am ehesten gelingt es, wenn es in der Partitur nahe daran heran komponiert wird, auf die Schwelle, damit es von alleine passieren kann. Es muss auf diese Grenze komponiert sein, und in der Aufführung schlüpft, wischt, fliegt es über diese Grenze und ist da.

Form, Volumen
Meine Arbeiten sind immer Kompositionen, und auch dann, wenn die Stücke sehr lang sind, sind es nie Installationen. Ich mache diese Stücke mit den sehr langen Dauern nicht, weil es mir um Stille oder um eine Versenkung in den Klang oder ähnliches geht, sondern um Form. Die Stücke fliessen nie einfach in die Zeit hinein, sondern haben immer einen formalen Widerstand, an dem sich die emotionale Kraft, die der Form innewohnt, entfaltet. Wenn in einem Stäck also in einer Stimme eine Pause oder ein unveränderter Klang von beispielsweise acht Minuten zu hören ist, dann ist es eine formale Entscheidung. Formen sind Zeitvolumen, und Klänge dienen zur Formulierung und Begrenzung dieser Volumen. Nicht jedes Volumen muss auch zwangsläufig ein Klangvolumen sein, und ein grosses Volumen muss nicht immer durch viel Material bestimmt werden. Volumen sind oft auch Leervolumen, deren Grenzen durch einzelne Klänge markiert werden. Manchmal denke ich, es könnte ähnlich sein wie in der Architektur: ein grosses Volumen ist dort, wo Material gerade nicht ist. Ein Platz oder ein Raum wird geschaffen, und wesentlich ist, dass er Leerraum hat. Das Material wird dazu benutzt, diesen Leerraum zu begrenzen, und dieser Leerraum wird geprägt durch die Art der Verwendung der Materialien und die unterschiedlichen Qualitäten dieser Materialien. In der Musik sind es dann die Oberfläche der Klänge, ihr Umfang, ihre Register und die Beziehungen der verschiedenen Ebenen zu den Pausen, die diese Volumen offen und durchlässig halten. Meine Arbeitsweise sucht dann die Leichtigkeit in der zeitlichen Abfolge verschiedener Volumen, oder die plötzliche, subtile Veränderung in der Materialität von grossen Volumen, oder die langsame Verschiebung von mehreren, gleichzeitig klingenden Volumen.

Weite, Raum
Buch der Räume und Zeiten3 ist ein langes, weit dimensioniertes Stück, ohne die Schwere von kompositorischen Entscheidungen, weil die kompositorischen Entscheidungen nicht nur für diese eine, gerade zu hörende Version gefällt wurden. Aus den 22 Einzelstimmen werden jeweils zwei für eine Aufführung ausgewählt. Das Stück wurde zwar im Bewusstsein von jeweils zwei erklingenden Stimmen komponiert, ohne aber eine bestimmte Fassung zu favorisieren. Ich hatte den Eindruck, dass ich das Stück schreibe, ohne jedoch eine bestimmte Version zu „berühren“. Die beiden Stimmen sind zwar aufeinander bezogen, aber nicht aneinander gebunden, und so kommen Leichtigkeit und Durchlässigkeit in das Stück und ermöglichen Weite und Raum.

Zwei Arbeitsorte
Konzeptualisation. Die Arbeit findet weitgehend ausserhalb des klingenden Materials statt. Die Arbeit spielt sich im innersten Kern des Werkes, ab, an einem Ort also, wo noch nichts Bestimmtes zu hören ist. Ich rede nicht über das „Konzipieren eines Werkes“ (eine Vorarbeit, der die spätere Ausarbeitung folgt), sondern über einen kompositorischen Arbeitsort im Kern des Werkes. Wenn man hier arbeiten will, muss man die Oberfläche in Ruhe lassen. Es gibt mit der Zeit ein Vertrauen und Wissen, dass sich die Oberfläche aus diesem formulierten Kern entfalten wird. Die einzelnen Elemente, Töne, Zahlen oder Anweisungen zu Spielverhalten sind so in eine Balance gebracht, dass sie wie ein Potenzial wirken, das sich in der Aufführung zu einer klanglichen Oberfläche entfaltet. Die kompositorische Arbeit jedoch hat diese Oberfläche vorher nicht berührt. Oberfläche. Die Arbeit findet an der Oberfläche statt. Hier sind die Töne zuerst einmal ohne Sprache und haben keinen Grund für ihre Anwesenheit. Die Arbeit besteht darin, an dieser Oberfläche Gründe zu finden, warum es gerade diese Töne, diese Dauern, diese Formen und diese Zeitpunkte sein sollen. Die Arbeit an der Oberfläche versucht, von dort aus Zusammenhänge herzustellen und in den Kern der Komposition vorzudringen, um dort die Gründe für die Anwesenheit der Töne zu finden oder zu erschaffen und so die Komposition zu entdecken. Durch strategisches Vorgehen und instinktives Verhalten, durch Strukturen Ideen, Emotionen, Anleihen, Zusammenspiel, Melodien entsteht Musik, in denen Töne einen Grund für ihr Dasein gefunden haben. Die Gründe bleiben zerbrechlich, auch wenn sie präzis sind. Ich bin skeptisch gegenüber einer Musik, die die Gründe aufwendig herbeireden will.

Brauchbarkeit
Ich stelle mir vor, dass meine Musik eine intellektuelle und emotionale Brauchbarkeit hat. Sie ist eine Art geistlicher (nicht religiöser) Musik: sie befasst sich mit der Zeit und mit dem, was darin anwesend und abwesend ist. – Sie ist auch eine Art Volksmusik: klar, direkt, eindeutig. – Manchmal stelle ich mir vor, dass meine Stücke wie Architektur oder Kleidung sind: man hört sie, man kann sich darin aufhalten, man kann sie um sich haben, man trägt sie mit sich, in sich.

Unhörbare Zeiten
Es gibt klingende und nichtklingende Zeiträume. Unhörbare Zeiten sind Zeiträume, die zwischen, am Ende oder gleichzeitig mit den hörbaren Zeiträumen da sind. Unhörbare Zeiträume entstehen, wenn Spieler lange Pausen haben. Unhörbare Zeiträume, die sich zwischen einzelnen Klängen oder Klangblöcken ausbreiten, entwickeln manchmal beinahe monumentale Präsenz. Unhörbare Zeiträume, die gleichzeitig zu Klingendem da sind, lassen sich eher neben oder hinter dem Hörbaren erahnen. Beim Komponieren denke ich in hörbaren und unhörbaren Zeiträumen. Es wirkt eine Transluzenz in der Architektur der Komposition, deren Sinnfälligkeit nur innerhalb einer Aufführung erfahren werden kann. Präzise Materialvorstellungen sollen sich in klaren Formen, in Graden von Festigkeit und Durchlässigkeit und in der dem Stück eigenen Luizidität entfalten.

Brachland
Manchmal stelle ich musikalisches Brachland her. Es entsteht ein musikalischer Klangraum, in welchem wenig Material einfach herumliegt, und der einen zu nichts auffordert. Man kann hörend in ihn hineingehen: es ist ein Raum für Empfindungen, Gedanken, für Anwesenheiten und Interpretationen. Dieser Raum hat Leerstellen – das ist die diesem musikalischen Raum eigene Identität. Das Problematische ist, dass dieser Raum so leicht besetzt und missbraucht werden kann von fremden Interessen. Trotzdem ist es nicht notwendig - ich wüsste auch gar nicht, wie - dieses Brachland in meinen Stücken vor den Vereinnahmungen zu schützen. In diesem Brachland sind die Leervolumen, die nicht benutzte Zeit und das beiseite liegende Klangmaterial ebenso wie die bloss angedeutete Komposition Teil der sinnlichen und emotionalen Erfahrung.

Anonymität
Töne sind Allgemeingut, man kann so viele davon nehmen, wie man will, und niemand hat einen besonderen Anspruch auf bestimmte Töne. Es gibt eine unüberblickbare Anzahl davon, und in meiner Arbeit hole ich mir regelmässig etwas von dieser Masse in meine Kompositionsbücher hinein. Ich mache diese Anhäufung von Material, einfach weil mir der Vorgang des Schreibens eine sinnvolle und taktil schöne Beschäftigung ist. Es ist ein Sammeln von unspezifischem Material, beispielsweise einer Aneinanderreihung von mehreren Seiten mit gleichen Viertelnoten, das einem Vorgang des „In-die-Landschaft-hinausschreibens“ ohne Ziel gleicht. Trotzdem kann das Resultat, später, plötzlich als Teil einer möglichen Partitur erscheinen. Was vorher Teil einer unüberblickbaren Masse war, hat jetzt, einfach weil es von dieser Masse abgetrennt worden ist, Individualität. Auch wenn ich mir wünschte, die Klänge könnten etwas von ihrer ursprünglichen Anonymität bewahren, ist es doch so, dass jeder Klang Züge von Individualität annimmt, sobald er aufgeschrieben wird. Vielleicht kann etwas von dieser Anonymität übrig bleiben, wenn die Hand und der Geist des Komponisten, der die einzelnen Töne vom ganzen Rest trennt, subtil und präzis arbeiten.

Klang, dieser Klang
Ich kann es nicht einfach mit „Zerbrechlichkeit“ oder „Zartheit“ beschreiben, und es ist auch nicht nur eine Folge einer ppp-Anweisung oder einer besonderen Klangfarbe. Der Klang hat eine Präsenz, und sobald man ihn berührt, ist er zerstört und verschwunden. Er ist das Resultat von tieferen kompositorischen Entscheidungen. Es ist das Schreiben von Klang und das gleichzeitige Nicht- schreiben von Klang (nicht: das Schreiben von Nicht-Klang), das den Raum für diese klare und eindeutige Situation erschafft. Ihn zu spielen, verlangt Konzentration und Präsenz, gleichzeitig spielt man den Klang mehr mit den Ohren als mit dem Einsatz des Körpers. Der Klang ist da, und er schafft gleichzeitig, in ihm selber, den Raum für das, was ihn zum Verschwinden bringen wird. Das Stück öffnet einen Klangraum, und, indem es gleichzeitig zurückweicht, entsteht dieser leere Raum, in welchem die Klänge dann am schönsten klingen, wenn sie selber diese Dualität von Dasein und Abwesenheit in sich tragen.

Architektur und Empfindung
Konstruktion beginnt schon bei den kleinsten Entscheidungen: Das Aufhören des Klangs macht ihn zu einer Gestalt und zu einer Aussage. Ein Stück, das aus einem einzigen, gleichbleibenden Kontinuum besteht, wäre monolithisch, unangreifbar, unverletzlich. Der Unterbruch einer möglicherweise fortwährenden Kontinuität gibt dem Klang Form und Inhalt und es gibt Beziehung und Gewichtung zwischen verschiedenen Teilen.
An diesem Ort, wo musikalisches Material zuerst mit einer Ahnung von etwas Unbegrenztem verbunden wird und später zu einer Erfahrung von Zeit und Raum wird, habe ich ein fast körperliches Sensorium, um hier das Material, das Gefühl für das Stück und die Technik in einer Balance zu halten. Es sind zwar oft einfache und elementare Verfahren, aber die Anforderung an die Präzision nimmt zu. Es sind Entscheidungen, die eine Distanz zum reinen Fluss der Zeit zur Folge haben und in der Musik Energie und Atem auslösen. Die Aufrechterhaltung von Stabilität über sehr lange Zeiten, das Auflösen dieser Stabilität, das eher einem Ausatmen oder einem Verlassen von Situationen gleicht, die Materialität der Harmonik und die Ahnbarkeit von Melodik sind dabei die Resultate von elementaren konstruktiven Entscheidungen. Konstruktion wird dabei als Empfindung wahrnehmbar, und die Achtsamkeit besteht darin, diese Empfindungen in der Schwebe zu halten, bevor sie in der Endlichkeit der Expressivität angekommen sind.
1 Texte aus den Kompositionsbüchern, ausgewählt und zusammengestellt Februar und März 2008
2 Fernando Pessoa, Buch der Unruhe, Zürich 2003, S. 423

3 Jürg Frey: Buch der Räume und Zeiten, für zwei Instrumente, 22 Einzelstimmen, edition wandelweiser, Haan

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Jürg Frey
RAUM

Aufführungsort
Es ist eine bekannte Tatsache, dass bei einem Museumsbesuch der Betrach- ter den Abstand zum Bild variiert: Er geht nahe zum Bild, dann betrachtet er das Bild aus der Distanz, und in einigen Fällen findet er einen optimalen Ab- stand zum Bild, bei welchem sein Erlebnis am intensivsten ist. Es gab auch Maler, die sich über diesen Abstand äusserten. So wollte zum Beispiel Mark Rothko, dass man seine Bilder aus grosser Nähe betrachtet, denn er war der Ansicht, dass auf diese Weise das Überwältigende seiner Arbeiten am besten zum Tragen kommt. In andern Fällen kann das Variieren des Abstandes zum Bild zu neuen Seherlebnissen führen, wie ich es kürzlich in einer Morandi- Ausstellung erlebte, in welcher die Bilder, aus unkonventionell grosser Dis- tanz betrachtet, eine neue, vorher nicht erkannte Energie und Farbigkeit preisgaben.
In der Musik gibt es eine ähnliche Situation, die die Raumverhältnisse zwi- schen den Ausführenden und den Zuhörenden thematisiert. Meistens entfällt diese Thematisierung im Konzertleben, da durch die starren Vorgaben der Aufführungsräume nichts zu ändern ist. Im allgemeinen wird diese Frage über die akustische Qualität der einzelnen Plätze und damit über die Finanz- stärke der Zuhörenden geregelt. Dass dies nicht immer die einem Stück adä- quate Lösung ist, weiss, wer schon einmal einen Liederzyklus von Schubert in einem Saal von 750 Personen in der fünfzehnten Reihe erlebt hat und dies vergleichen kann mit einer Aufführung in einem Raum mit 50 Zuhörern. Es ist offensichtlich, dass Schubert bei der Komposition des Zyklus eine ideale Zuhöreranzahl, eine ideale Raumgrösse und damit einen idealen Abstand zwischen Publikum und Musik mitbedacht hat. Und so kann man sich vor- stellen, dass auch ein Klaviertrio von Haydn einen andern idealen Raum hat als das Klaviertrio von Ravel, dass also jedes Stück eine ideale Raumgrösse und eine ideale Anzahl von Zuhörern als Teil der kompositorischen Identität in sich mitträgt. Diese Einsicht wird heute selten berücksichtigt, da bei der
1Raumwahl oft nicht künstlerische, sondern praktische und ökonomische Überlegungen bestimmend sind. Solche Überlegungen fliessen, mehr oder weniger bewusst, in den Kompositionsprozess ein. Dies ist mir aufgefallen, weil bei Aufführungen meiner eigenen Musik oder von Musik mit mir befreundeter Komponisten diese Fragestellungen in Bezug auf Raum und Anordnung von Musikern und Publikum oft während der Probenarbeit zu einem Thema geworden sind.
Es scheint so, dass die Stücke forderten, während der Probenarbeit über diese Aspekte zu diskutieren und Lösungen zu finden, die ausserhalb der konventionellen Konzertpraxis liegen. Woran liegt es, wenn man realisiert, dass für ein Duo wie Lovaty für 2 Sprechstimmen – hier ist jetzt von eigenen Stücken die Rede – eine gute Aufstellung diejenige ist, bei der die beiden Ausführenden nebeneinander stehen, deutlich voneinander getrennt sind und ins Publikum schauen? Wa- rum ist die Situation plötzlich sinnvoller, wenn das Ensemble in Hügel, Schatten, Landschaften nebeneinander in einer Reihe aufgestellt ist? Warum ist es wohltuend, wenn der Solist in One Instrument, Series weit entfernt vom Publikum spielt und dieses nicht in Reihen, sondern lose verstreut und vereinzelt im Raum sitzt? Warum trägt es zur Klarheit der Situation bei, wenn das Ensemble bei Landschaft mit Wörtern im Kreis sitzt und das Pub- likum, den Musikern nahe, ihnen über die Schultern guckt?
Ich möchte hier nicht dazu ermuntern, mit der Aufführungssituation zu experimentieren, mal dies, dann jenes auszuprobieren. Vielmehr geht es mir da- rum, auf einen Zusammenhang zwischen Komposition und Aufführungssituation hinzuweisen. Dieser Zusammenhang wird oft oberflächlich abgehandelt, tatsächlich gibt es aber eine feine Kommunikation zwischen den beiden; sie schlägt sich in der Art und Weise nieder, wie sich das Stück in dem Aufführungsraum ausbreitet und dann beim Publikum ankommt. Man kann beobachten, wie sich im umfassenden Sinn die Identität einer Komposition auf eine dem jeweiligen Stück eingeschriebene Art und Weise im Raum und damit im Publikum fortsetzt. Das Stück trägt einen Raum, in dem es optimal erklingen kann, in sich. Man kann sich auf einen Dialog mit dem Stück ein- lassen, Raumgrösse, Anordnung des Publikums und räumlicher Abstand zur Musik können Bestandteil des Dialoges sein. Gleichzeitig soll man aber auch die Identität der Komposition nicht unterschätzen: Sie wird sich immer, unabhängig von den äusseren Bedingungen, ihren eigenen Raum erschaffen, in welchem sie erklingen kann. Nach meinen Erlebnissen ist oft auch nicht vorher zu planen, welches die adäquate Situation für das Stück ist. Erst ein Probenprozess und die Sensibilität und Zusammenarbeit aller beteiligten Musiker machen Lösungen und das Potenzial für das jeweilige Stück sichtbar. Man könnte in solcher Unsicherheit mangelnde Erfahrung mit Aufführungen sehen. Aber oft entsteht einfach eine unvermeidliche Situation, wenn man Komponieren aus einer Haltung des Forschens heraus betreibt und so Gebiete berührt, in denen es diese Erfahrungen noch nicht gibt.

Kompositionskörper
So wie es einen Aufführungsraum und eine Aufführungssituation gibt, gibt es in meiner Vorstellung auch einen Kompositionsraum, in dem ich mich als Komponist aufhalte, noch lange bevor es überhaupt um Fragen einer Aufführung geht. Es ist eine Art von Kompositionskörper, der während der Arbeit mittels Material, konzeptioneller Strategien und konstruktiver Verfahrens- weisen entstehen wird. Zuerst ist ein offener, leerer und unbegrenzter Raum. In diesem Raum wird musikalisches Material erklingen und ihn so zu einem Klangraum machen. Dabei gibt es auch die Arbeit auf den fünf Notenlinien: hier schreibe ich Zeichen in diesen leeren Raum hinein, Zeichen, die diesen Raum begrenzen, ihn an anderen Stellen offen lassen, ihn nur anklingen las- sen oder ihn verankern, ihn erweitern, ihn abschliessen oder durchlässig machen. So entsteht ein Kompositionskörper, es sind Volumen, Spuren, es ist Weite, Zeitraum. Es erklingt eine Architektur, die manchmal mehr einem Gebäude, manchmal eher einer Landschaft gleicht. Material kommt darin in einer möglichst elementaren Form vor.

Leerer Raum. Zeitraum
Der leere Zeitraum ist die fundamentale Basis, und Material ist in meiner Musik oft nur ganz rudimentär vorhanden. Manchmal habe ich den Eindruck, dass überhaupt nur die Zeit der Kompositionskörper ist. Aber um eine Art von Zeitraum zu bekommen, braucht es eine minimale Anwesenheit von Material. So entstehen die Leervolumen, und es sind die oft langen Pausen und die Unveränderlichkeiten im gleichbleibenden Material, die nicht mit neuem Material, mit Hektik, mit Symbolik, mit Gestik verschüttet werden, die mir überhaupt erst ermöglichen, mich in diesem Kompositionskörper aufzuhalten.
Diese großen, weiten und oft auch stillen Räume geben dem Stück eine Monumentalität, gegen die ich mich nicht sträube, die jedoch nach meinem Verständnis von Gelingen nicht eine bestimmende und autoritäre sein kann. Diese Monumentalität trägt sowohl ihre Vergänglichkeit als auch ihre Offenheit jederzeit in sich und macht sich selbst als Situation der Zerbrechlichkeit erfahrbar.
Anwesenheit. Abwesenheit
Die Präsenz der Komposition muss sich nicht immer im Klingenden manifestieren. Die Aspekte des Kompositionskörpers und des Kompositionsraumes sind dann besonders deutlich, wenn dieser Raum offen gelassen wird und nicht durch Klang verstellt wird. Es gibt dann die Erfahrung, dass mit einem Minimum an Klang ein Maximum von Raum zu gewinnen ist. Grosse Volumen, die in diesem Fall eigentliche Leer-Volumen sind, können nur erscheinen, wenn ihnen der Zeitraum zu ihrer Entfaltung gelassen wird. Kein oder nur spärlich hörbares Klangmaterial erlaubt der Zeit maximale Anwesenheit, so dass diese als Weite und Volumen erlebbar wird. Der Abwesenheit von Klangmaterial folgt die Anwesenheit von weitem Raum, der in ruhiger Statik da ist, metaphorisch: Platz, Ort, Mauer, Landschaft, Schatten. Klang kann fast ganz abwesend sein, das heisst noch nicht, dass auch Komposition, die Tätigkeit des Komponierend, fast abwesend ist. Aber auch dies ist mir als Arbeitsweise wichtig: Komposition, als Tätigkeit, kann sich zurückziehen, verweigern, kann verschwinden, sich verflüchtigen, so dass am Ende im Stück nur noch die Zeit vergeht. Auch hier erlebe ich, wie beim Umgang mit Klangmaterial: je weniger Komposition, umso präziser muss sie sein. Auch eine grossenteils abwesende Komposition ist eine Komposition. Es gibt die Anwesenheit und die Abwesenheit der Tätigkeit des Komponierens, und manchmal sind Teile des Kompositionskörpers nur als Hülle da, ohne Material und ohne Kompositionstätigkeit. Die Ruhe, der Zeitraum, die Zeitvolumen, die von der Abwesenheit des Materials und der Abwesenheit des Komponierens gebildet werden, bringen ja den Kompositionskörper nicht zum Verschwinden, sondern machen ihn in seiner umfassenden Anwesenheit erst recht erfahrbar.

Zusammenhang
Auch wenn in meiner Musik manchmal wenig klingendes Material vorhanden ist und es lange Zeiten von Stille geben kann, bin ich jedoch immer am Zusammenhang interessiert, also am Kompositionskörper als Ganzem und an einem Zusammenhang, der den ganzen Kompositionsraum umfasst. Dabei mache ich in Bezug auf meine Musik zwei Beobachtungen: einerseits gibt es Stücke, die aus kurzen Einzelklängen bestehen. Diese nehmen die Qualität von Einzelobjekten an, sie sind manchmal wie Gegenstände, manchmal eher wie begrenztes, wenig bearbeitetes Material. Diese Einzelklänge sind zwar voneinander getrennt, sie sind aber nicht nur isoliert, sondern treten in Kommunikation untereinander und sind, auch über lange Pausenabschnitte hinweg, manchmal schweigsam, manchmal prononciert anwesend. Ein weites Feld öffnet sich, in dem die Klänge manchmal bloß eine Zeitmarkierung sind, immer aber wesentlich zur atmosphärischen Qualität und zur Identität der Situation beitragen.
Andererseits beobachte ich, wie die Pausen in meiner Musik formale Träger der Komposition sind und dass dann Pausen, auch lange dauernde von einigen Minuten, formale Entscheidungen sind. Sie sind wesentlicher Bestandteil der Kompositionsarchitektur, ähnlich wie in der gebauten Architektur das Wesentliche gerade dort ist, wo das Material nicht ist: Der leere Raum, der leere Platz. Material dient hier dazu, diesen leeren Raum zu bekommen, es dient dazu, Raum zu erschaffen, zu begrenzen, und inhaltlich zu prägen. Da- bei kann man erfahren, dass große Volumen eben dort entstehen, wo Material gerade nicht ist, und dass Volumen auch Leer-Volumen ist. So wie in der Architektur das Bauen dazu führt, Raum zu bekommen, wird in der Musik das Komponieren als Arbeit mit Klang verstanden, um Zeit zu bekommen. In der Architektur dient Material dazu, Raum zu begrenzen. Auf ähnliche Weise benutze ich Klänge zur Begrenzung zeitlicher Leerräume.
Aber das musikalische Material hat auch die Eigenschaft, dass es selber Raum werden kann. Damit diese Eigenschaft hervortreten kann, muss das Material selber leer sein. Hier liegt einer der Gründe für mein ständiges Interesse am musikalischen Material: es ist immer wieder eine Herausforderung, leeres Material zu finden, Material zu entdecken, das die Möglichkeit des Leerseins in sich trägt, oder leeres Material zu erarbeiten. Tatsächlich ist es etwas vom Schwierigsten, dieses leere Material zu bekommen. Manchmal kommt man in die Nähe von leerem Material. Dann können diese Räume und Volumen entstehen aus Klang und Nichtklang, die langsam ihre emotionale Kraft entfalten. Manchmal kann man sich in ihnen aufhalten, manchmal ziehen sie an einem vorbei, man erfährt oder beobachtet die langsame Verschiebung von Volumen – oder die plötzliche leichte Veränderung der musikalischen Räume.
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Jürg Frey
UND WEITER GING'S

Eine Möglichkeit, Zeit zu erfahren, ist der Weg. Ihn haben wir mit Beginn einer Aufführung vor uns. Das Stück entwickelt sich, nimmt diese und jene Richtung, kehrt vielleicht zurück, hat hier und dort Schwerpunkte, fokussiert bestimmte Klanglichkeiten oder thematische Ebenen. Es geht immer weiter, und je mehr wir gehört haben, umso mehr Vergangenheit gibt es. Diese Vergangenheit ist in unserer Erinnerung eine Spur, ein Weg, wir erinnern ihn als Bruchstücke eines Klanggebäudes, das wir mit den Ohren durchschritten haben, oder als ein eher organisches Wachsen, das seinen Weg durch die Zeit entwickelt hat. Die Fragen lauten: Wie geht es weiter, warum geht es weiter, in welche Richtungen geht es und mit welcher Geschwindigkeit?
Eine andere Möglichkeit, Zeit zu erfahren, ist die Weite. Die Musik besteht aus Klang, unverändert und gleich bleibend dehnt er sich in den Raum aus. Das Interesse wendet sich nicht dem Einzelereignis zu, sondern wandert quasi im Raum, nimmt also den Raum genauso in Anspruch wie der Klang es tut. Komposition und Raum verschmelzen, beide sind Bestandteil einer klanglichen Situation, die zeitlich ungerichtet, vielleicht sogar unbegrenzt ist und die durch ihre Präsenz und Anwesenheit von Klang, Raum und Hörenden bestimmt wird. Die Erinnerung ist weniger geprägt von einzelnen Details als von einer Situation, in der man sich eine gewisse Zeit aufgehalten hat. Hier lauten die Fragen: Wie entstehen die Grenzen, wo sind sie? Und: Wie entstehen die Besonderheiten, wo ist der Kern der Komposition, der der Situation seine Identität und seine Energie gibt? Was gibt dem Ganzen eine klangliche und kompositorische „Körnigkeit“?
Wir können uns folgende Komposition vorstellen: 672 langsame Achtelnoten, jede Note einzeln aufgeschrieben, über Zeilen und Seiten hinweg, gespielt von vier Ausführenden mit acht Triangeln. Dann 672 langsame Achtelnoten, jede einzeln aufgeschrieben, über Zeilen und Seiten hinweg, gespielt von vier Ausführenden mit acht Fingercymbeln. Später hört man minutenlang leise Beckenklänge, dann Tamtamgeräusche und leise Klänge von gestrichenen Steinen und Metallplatten. Nach einer guten halben Stunde erste Pausen – dazwischen lange Teile mit gleichen Klängen der großen Trommeln im Pianissimo, später Rascheln von Laub, Steine, Summen. Ich befinde mich auf der Schwelle zwischen diesen beiden Erfahrungswelten: der Erfahrungswelt des Weges und der Erfahrungswelt der Weite. Dabei möchte ich betonen, dass meine Interessen nicht darin bestehen, die ganze Bandbreite zwischen prozesshaftem Komponieren – also einem Aktivismus, der auf ständige Veränderung bedacht ist –, und einem Arbeiten mit statischen Klängen oder einem installativen Denken auszuloten. Ich pendle hier nicht möglichst einfallsreich hin und her, um möglichst viele Positionen kompositorisch zu besetzen. Vielmehr befinde ich mich genau auf dieser Schwelle, wo ein statisches Klangdenken fast unmerklich eine Richtung bekommt, wo statische, gänzlich unbewegte Klänge und der Beginn einer Bewegung, einer Gerichtetheit des Klangmaterials sich berühren. Auf dieser Schwelle, die eine sehr luftige und bewegliche Schwelle ist und die als Ort nicht zu fassen ist, die ((vorher der?? OK??)) jedoch in der Musik als Ort gelegentlich erfahrbar wird, gibt es immer noch genug Spielraum, Unübersichtlichkeit und Lebendigkeit, die das Komponieren inspirieren und herausfordern. Diese beiden grundsätzlich unterschiedlichen kompositorischen Verhaltensweisen, die sich sowohl im zeitlichen Nacheinander als auch in der Gleichzeitigkeit berühren können und sich oft nur um Nuancen unterscheiden, schaffen einen Raum und eine Perspektive, die es erst ermöglichen, dass die Komposition als Klangraum mit dem Aufführungsort als Aufführungsraum zu einer gemeinsamen Situation werden können.
Während sich die Vorstellung des Weges eher mit einem prinzipiell melodischen Denken verbindet (auch dann, wenn in der Komposition nicht unbedingt wie auch immer gestaltete Melodien zu hören sind), ist das räumliche Denken eher mit Klang oder mit der Vorstellung des Monochromen verbunden. Während die Melodie und der Weg einen Anfang und eine Ende haben, haben Klang und Raum eine zeitlose Anwesenheit.
Dass die beiden hier so sauber getrennten Sphären in einem komplexen Verhältnis zueinander stehen, zeigt die musikalische Erfahrung: wenn etwa ein stehender elektronischer Klang plötzlich als eine sehr hohe Geschwindigkeit wahrgenommen wird, oder wenn eine Schritt für Schritt gleichmäßig vorwärts gehende Bewegung allmählich zu einer monochromen Erfahrung tendiert. So geht der Weg allmählich in Raum über. Anderseits kann ein Klang etwas erzählen oder ein scheinbar statischer monochromer Klang lässt uns dank sehr kleiner – vorerst nicht wahrnehmbarer – Veränderungen erst mit der Zeit erfahren, dass wir plötzlich an einem andern Ort sind. So kann Klang in der Zeit einen Weg bilden. Wir befinden uns also in komplexen Erfahrungswelten: Ein Weg, eine Spur kann, als Folge der langen Dauer in der Zeit, zu einer Fläche, einer Weite oder einem Raum werden – und eine Weite, ein Raum, kann
bei der Hinwendung zum Einzelnen, bei Richtung der Aufmerksamkeit auf kleine Veränderungen als ein Weg, eine Spur erlebt werden. Beide zusammen umkreisen den Kern des Stückes: Monochromie als eine Ahnung des Totalen, Erzählung als ein Weg vom einen zum andern.
Für den Interpreten sind diese „dualen Situationen“ eine ungewohnte Herausforderung. Ist er mit der Monochromie des Daseins des Klanges konfrontiert, bedeutet dies, wirklich hinter dem Klang zu verschwinden und alles Theatralische, das er allein schon durch seine Anwesenheit mitbringt, zum Verschwinden zu bringen. Das heißt zuerst, dass das wenige und spezifische Material, das ein zentrales Charakteristikum dieser monochromen Situationen ist, beim Spielen quasi in Ruhe gelassen wird; dass ihm also nicht durch Interpretation und Besonderheiten in der Spielart zu einem Gewicht und zu einer Interessantheit ((Status des „Interessanten“ ja)) verholfen werden soll, von denen diese Klänge eben gerade absehen. Die Virtuosität des Interpreten besteht aber – darüber hinausgehend – gerade darin, angesichts seines Könnens und seiner Erfahrung, die er auf seinem Instrument besitzt, Klänge so zu produzieren, dass er selber verschwindet, um klar zu machen, dass es nur um den Klang im Raum geht. Jede Unsicherheit im instrumentalen, emotionalen oder körperlichen Bereich schiebt den Interpreten sogleich in den Vordergrund und beeinträchtigt die monochrome Erfahrung.
Dies ist die Basis, auf der die Anwesenheit beziehungsweise die Abwesenheit von Klang und Spieler zu einem Thema werden kann. Es ist gleichzeitig die Grundlage, von der aus sich die Klänge auf den Weg machen: Die Strategien des Komponisten und sein Verhalten dem Material gegenüber bekommen eine oft nur um Nuancen andere Energie, um den Klängen eine Richtung zu geben, eine Veränderung einzuleiten oder einen Teil zu verlassen und in einem neuen Teil anzukommen. Die kleinste Regung reicht aus, damit der monochrome Raum schlagartig zurückweicht, der Fokus richtet sich dann auf die Komposition und damit auf die Präsenz des Spielers, der diese kompositorische Änderung als Interpret vermittelt. Die Aufmerksamkeit wechselt also von einer ungerichteten Raum- und Zeitsituation zu einer gerichteten Situation, in der die Klänge zu wandern beginnen und subtil eine Richtung ausstrahlen, um damit die Situation in einem etwas andern Licht erscheinen zu lassen. Das kann sein, um sich wirklich auf den Weg zu machen, es kann sein, um rasch und leicht von einer Klangsituation in eine neue hinüberzuwechseln; immer ist der Interpret gefordert, die Klänge nicht halten und gestalten zu wollen, sondern sie während seines Spiels gleichzeitig loszulassen und so die ihnen innewohnenden Qualitäten hörbar und erfahrbar zu machen. Die
Zeit fließt quasi durch den Interpreten hindurch. Er bringt weniger seine eigene Präsenz zur Geltung, als dass er die Präsenz des gesamten Raumes artikuliert. Er reagiert seismographisch fein auf die kleinsten Wechsel, auf das subtile Überschreiten der Schwelle zwischen der monochromen ungerichteten Situationen und einer Zeitgestaltung, die Richtung und Weg erahnen lässt.
Hier entzündet sich für einen Komponisten ein formales Interesse, das sich als ein Atmen der Komposition zwischen diesen beiden Zuständen des Raumes und des Weges beschreiben lässt. Was sich für den Interpreten sagen lässt, gilt in mindestens gleichem Maße für den Komponisten: Er entscheidet über die musikalischen und kompositorischen Parameter, er arbeitet präzise mit musikalischem Material und ist Erfinder dieser Situationen, die jedoch nur entstehen können, wenn er als Komponist zu seinen künstlerischen Absichten in einem Verhältnis steht, bei dem er quasi abwesend ist. Gleichzeitig soll genau das passieren, was er für die jeweilige Komposition als richtig erachtet. Dies ist kein Paradox, sondern die Grundlage, auf der die kompositorische Arbeit baut. Das Resultat unterscheidet sich von einer Musikerfahrung, die das Hören eines Kunstobjektes, das am Aufführungsort dargestellt wird und das ich von außen hörend betrachte, ins Zentrum stellt. Dagegen bilden Raum, Klang und Zuhörer ein Spannungsfeld verschiedener ausbalancierter Anwesenheiten, das zu einer existentiellen Erfahrung des körperlichen und geistigen Daseins für die Zuhörenden werden kann.
Die Fragilität, die diesem Spannungsfeld eigen ist, rührt daher, dass Stillstand und Bewegung, Monochromie und Erzählung, so nahe beieinander sind, dass schnell und leicht vom einen ins andere gewechselt werden kann, so dass jederzeit im einen Zustand die Absenz des andern im Bewusstsein bleibt – dass Monochromie also Absenz von Bewegung und gerichtetes Material die Absenz von Monochromie ist. Nicht zuletzt von dieser Oszillation bezieht dieses Spannungsfeld seine Energie und seine Komplexität. Diese erweitert sich zusätzlich, wenn man noch die Erfahrungen von Zuhörenden mit in die Betrachtung einbezieht. Bekanntlich schwingt eine monochrome Klangwelt nicht unbedingt in einer monochromen Erfahrung des Zuhörers weiter. Es kann also durchaus sein, dass sich der Zuhörer in einer statischen Musik, die sich nicht fortbewegt hat, am Ende der Aufführung innerlich an einem andern Ort befindet; wie es umgekehrt nicht unbedingt so sein muss, dass eine gerichtete, bewegliche und einen Weg in der Zeit bildende Musik auch den Zuhörer auf eine Reise mitnimmt.

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Jürg Frey
MATERIAL

1
Es gibt diese sehr grosse Kiste, in der alles drin ist, was wir zum Komponieren brauchen: Tonhöhen, Dauern, Instrumente, Pausen und alle Arten von Stille, alle elementaren Farben und Tönungen und alle vokalen Möglichkeiten. Verschiedene Gründe lassen uns einseitig in diese Kiste hineingucken, so dass wir nur einen Teil des Inhaltes wahrnehmen, etwa weil wir andere Kompositionen, die es schon gibt, im Kopf haben, weil wir eine gewisse Vorstellung haben von dem, was Musik zu sein hat oder weil wir von Ansichten über richtig und und falsch geprägt sind. Wir können den Inhalt dieser Kiste als unser Material bezeichnen. Mit der Zeit lernen wir immer mehr vom Inhalt dieser Kiste kennen. Gleichzeitig finden wir uns immer besser in dieser Kiste zurecht, indem wir lernen, was wir daraus brauchen können und welche Teile mehr für andere sind.

Wenn wir aus Distanz auf die 50er Jahre zurückblicken, begegnet uns ein anderer Materialbegriff. Das Material bestand aus den verschiedenen musikalischen Parametern, so dass Tonhöhen, Dauern, Lautstärken und Instrumentierung in Reihen angeordnet werden konnten. Die Komponisten haben dieses Material geordnet, um nachher damit zu komponieren, um dieses Material in den Griff zu bekommen und damit Klänge, Konstellationen und musikalische Verläufe zu gestalten.
Es wäre keinem seriellen Komponisten in den Sinn gekommen, seine Listen und Tabellen, seine Materialaufstellungen, schon als Stück zu bezeichnen. Man konnte sie gar nicht spielen, denn es gab hier Tonhöhen ohne Dauern, es gab Dauern ohne Tonhöhen und Klangfarben ohne Tonhöhen und Dauern. Wenn sie gespielt worden wären, wären es sofort nicht mehr diese Tabellen gewesen, die Tonhöhen wären zu Klängen und Melodien geworden, die eine Klangfarbe, eine Dauer und eine Lautstärke haben. Material war hier etwas, das noch vor dem Klingenden, noch ohne Klang, Dauer und Farbe geordnet wurde.

Von Cornelius Cardew gibt es ein Stück aus den frühen 60er Jahren, das den Titel Material trägt. Die Partitur sieht aus wie ein Klavierstück. Bei der Interpretation beschäftigt man sich dann mit der Instrumentation, man trifft Entscheidungen über Lautstärken und Tempi und macht vielleicht eine Auswahl aus dem umfangreichen Material. Das Stück stellt also das Material zur Verfügung, aus dem das Klingende erarbeitet wird. Das Material ist aber hier etwas Gestaltetes, denn Tonhöhen und Rhythmen sind schon da. Man kann sich eine Interpretation vorstellen, die sehr stark von dem abweicht, was das Material suggeriert. Das Tempo ist variabel, übermässiges Rubato kann verwendet werden, jede Note kann ausgelassen werden, Akkorde können gebrochen werden, das Stück kann beliebig lang dauern, und die einzelnen Abschnitte können von jedem Spieler individuell in beliebiger Reihenfolge gespielt werden. Eine solche Interpretation entfernt sich sehr weit vom Ausgangsmaterial und wäre durchaus im Sinne von Cornelius Cardew. Wenn wir uns im seriellen Materialdenken das Material gar nicht vorstellen können, da es in seine einzelnen Parameter zerlegt ist, haben wir hier eine andere Ausgangslage: Material ist hier eine Vorlage, die man nun bearbeiten kann, und Cardew bezeichnet den Zustand vor dem Erklingen als Material. Es ist schon Gestaltetes da, das nun als Ausgangsmaterial für weitere, auch sehr weitgehende gestalterische Eingriffe dient.

Der bildende Künstler Stefan Gritsch hat unter anderem Arbeiten gemacht, die dreidimensionale einfache Formen sind, rechteckige Klötze, teilweise auch Kugeln. Ich erinnere mich an blaue, an rote und an verschiedene moränenlandschaftfarbig bemalte Körper. Ein Blick in den Katalog oder eine weitere Beschäftigung sagt einem dann, dass es sich hier nicht um bemalte Objekte handelt. Die Materialbezeichnung im Katalog heisst: Acrylfarben. Erst nach einigem Stutzen realisiert man, dass es sich hier also nicht um ein Holzstück handelt, das bemalt worden ist, sondern um Farbe selber. Diese wurde Schicht um Schicht in eine Passform eingefüllt, dort ist sie eingedickt und fest geworden, und am Schluss ist dieser Acrylblock entstanden. Der Abstand vom Material zum Stück ist hier ziemlich verblüffend. Dieser Abstand ist sehr gering und wird unter anderem hergestellt durch Entscheidungen über die Wahl der Farben und über die Grösse der Behälter, in die die Farbe schichtweise zum Trocknen eingefüllt wird.

Von George Brecht gibt es in seiner Sammlung Water-Yam ein Stück, das auf einer kleinen Karte notiert ist, und den Titel Table trägt. Unterhalb des Titels liest man, worum es in diesem Stück geht: Table. Das Stück heisst Table und ist ein Tisch. In gleicher Weise gibt es auch die Stücke 2 Umbrellas, Suitcase und Thursday. Aus der Aufführungspraxis der Fluxusbewegung, aus der diese Stücke stammen, kann man sich vorstellen, dass man mit diesen Gegenständen nun etwas macht. Man verwendet sie für eine theatralische oder klangliche Aktion, ähnlich wie wir in Cornelius Cardews Stück Material die Vorlage benutzen können, um ein Stück zum Klingen zu bringen. Ihre radikale Form zeigen die Stücke von George Brecht aber , wenn die Karte nicht als Anweisung für Aktionen gelesen wird, wenn also das Material nicht benutzt wird, um etwas darzustellen oder zu gestalten, sondern wenn der Gegenstand das Stück selber ist: der Tisch, die zwei Regenschirme, der Donnerstag. Es gibt sie und sie sind da. Die Aufführung wäre das Dasein des Tisches. Das Material ist das Stück selber und der Abstand zwischen dem Material und dem Stück ist minimal, er existiert wohl nur in unserem Kopf.

Das Material an sich gibt es nicht. Das serielle Materialdenken nimmt die einzelnen Parameter, und als einzelne Parameter wissen wir nicht, was sie sind, da wir Lautstärke nicht losgelöst von Klangfarbe und Dauer denken können. Und sobald wir die einzelnen Parameter zusammensetzen, haben wir einen Klang, und damit einen Inhalt, eine Idee. Das Materialdenken in den letzten Beispielen geht immer von etwas Vorgefundenem aus : der Klang der Pauke ist etwas, das es schon gibt, die Acrylfarbe ist etwas, das schon jemand hergestellt hat, die Farbe wurde gleichsam schon von jemandem komponiert, der Tisch... oder das cis des Horns, das Flageolett des Violoncellos, der Schlag auf die kleine Trommel. Jede Sache, auch die einfachste, weist, sobald wir sie hören oder sie uns vorstellen, ein Minimum an Gestaltung auf.

Auf der einen Seite haben wir also das Material, das man zwar denken kann, aber eine Vorstellung, wie es klingen soll, gibt es nicht, da das Material noch in einem Zustand vor der sinnlichen Qualität ist. Auf der andern Seite steht das Material als das fertige Objekt, der Tisch von George Brecht zum Beispiel, und dazwischen gibt es alle möglichen Orte, an denen sich ein Komponist befinden kann. Hier irgendwo, in diesem Feld, beginnt er mit seiner Arbeit, und als Komponieren wird dann diese Strecke bezeichnet, die er zurücklegt, um am Schluss eine Komposition zu haben. Eine Hornquinte zum Beispiel kann dabei Ausgangspunkt für ein Werk werden, eine Quinte kann aber auch schon das Stück sein, etwa in LaMonte Youngs Composition 1960 No.7, die bekanntlich aus den Tönen h und fis‘ besteht. Beide Male ist der Weg vom Material zur Komposition und der Abstand zwischen Material und Komposition prägend für die Erscheinung des Stückes. Als Komponist kann man also arbeiten mit einem Bewusstsein für diesen Abstand und mit einem Bewusstsein für die Inhaltlichkeit des Materials. Gerade dieses letzte Bewusstsein hat ja zu einer Arbeitsweise geführt, die diese Inhaltlichkeit brechen will, die das Aufbrechen dieser inhaltlichen Besetzung des Materials als Voraussetzung zum Komponieren betrachtet hat.

2
Ich möchte das einfache, eindeutige Material hören. - Es gibt die
Augenblicke, in denen wir das Material ohne diese Inhalte zu hören vermögen. Material, das unter dem Gesichtspunkt seiner Verwendbarkeit, seiner Vergesellschaftung, seiner Weiterentwicklung und Brechung, auch seiner Verwendung durch andere Komponisten, gesehen wird, kann nicht als Material selber gesehen werden. Diese Gesichtspunkte verunmöglichen den Zugang zum einfachen, eindeutigen Material. Wenn sie aber wegfallen, wissen wir zuerst nicht, was wir vor uns haben und wo wir sind. Es ist ein Ort, an dem wir dem elementaren Klang begegnen und der uns das Gefühl gibt, das Material komme irgendwo, oder nirgendwo her. Das Material scheint hier zuerst nichts zu sein und der Ort unbrauchbar. Aber es ist gerade dieses Material und dieser Ort, die ich suche und die meine Arbeit ermöglichen. Es ist jedoch schwer, an diesen Ort zu kommen. Es gelingt selten, oft bemerkt man im Nachhinein, dass man nahe daran war. Es ist die Demut gegenüber dem Material, das Aufgeben von kompositorischen Ideen, die uns in die Nähe dieses Ortes führen können. „Wenn du nicht überlegen zu sein wünschest, geht dir der Wunsch, den du gar nicht hast, in Erfüllung,“1    beschreibt der Schriftsteller Robert Walser diesen Sachverhalt. Kein Kraftakt und keine Willensbezeugung bringen uns dahin - und auch das Nichtstun führt in die Irre. In einem Text beschreibt John Berger diesen Vorgang mit seinen Worten: „Es genügt nicht, durch das Fenster zu schauen. Auch wird dich keine Autobahn dorthin bringen. Niemand kann dir die Richtung sagen, denn du weisst nicht, wonach du fragen sollst. Auf dieser Reise ist ein vielbetretener Pfad eher eine Warnung als eine Ermutigung. Zugleich muss der Ort nicht unbedingt verlassen oder wild sein. Er könnte direkt neben dem Platz sein, wo der Bäcker normalerweise sein Auto abstellt. Die Kunst besteht darin, per Zufall dort anzukommen. Dann überraschst du den Ort und der Ort überrascht Dich.“2 Es geht in diesem Text um Photographen, die Aufnahmen von französischen Dörfern gemacht haben und Berger beschreibt, wie sie ihren Ort gefunden haben: „Diese Photographen in den über hundert Gemeinden um Belfort sind nicht mit dem Motorrad gefahren. In ihrer Imagination haben sie etwas Schwierigeres unternommen. Sie haben ästhetische Gewohnheiten hinter sich gelassen, das Malerische, das Romantische, das Exotische und die Kategorie des Banalen. Ohne Ausnahme hat ein jeder gewusst, wann er an der Stelle angelangt war, die ihn angezogen hatte. Und sie haben ihre Photos gemacht, die besagen (als wäre die betreffende Stelle der unbestreitbare Mittelpunkt der Welt): Du bist hier. Und hier finden wir weder Schönheit noch Harmonie, noch irgend eines unserer menschlichen Tröstungssysteme.“3
Was wir hier finden, sind ein Material und eine Arbeitsweise. Hier wird die Möglichkeit beschrieben, das Material zu erfahren jenseits der Belastungen, die es durch kompositorische, geschichtsphilosophische und gesellschaftliche Kategorien erfahren hat. Hier wird die Möglichkeit beschrieben, dass man durch diesen ganze Umbau, der das Material belastet, hindurchschauen kann. Diese ganze Hülle, die vermeintlich zum Material gehört, und die ja nicht nur die Töne umfasst, sondern auch Techniken, Verfahrensweisen, Bedeutungen, diese Hülle verschwindet, sie fällt ab und die Wirklichkeit des Klangmaterials wird erfahrbar. Die Wirklichkeit des Klangmaterial beschreibt eine Existenz, die gerade nicht auf etwas anderes verweist, und das Material verschwindet nicht in oder unter solchen Verweisen. Das Material hat eine sinnliche Gegenwärtigkeit, und davon geht sein Reichtum aus. Bedeutungen, Inhalte sowie kompositionstechnische Denkkategorien zerstören diesen Reichtum. Die Schönheit dieses Reichtums kann man nur erkennen, wenn man sich auf die Ebene des Materials begibt. „Wenn du nicht überlegen zu sein wünschest“, so beginnt das obige Zitat von Robert Walser, und es bedeutet auch, den Gedanken aufzugeben, dass das Material dazu da ist, um benutzt zu werden, um damit etwas zu machen und ein Stück herzustellen. Dieses Material scheint gewöhnlich. Dieses Material ist still. Es ist nicht originell, da originelles Material immer von seiner Originalität sprechen muss. Dieses Material spricht nicht, es ist da.

3
Neben der Wirklichkeit der Klangmaterialien gibt es auch eine
Wirklichkeit der Arbeiten des Komponisten. Hier geht es um das Machen. Es wird bestimmt, wann und wie lange das Material erklingen kann. Es wird bestimmt, in welchem Verhältnis die Materialien zueinander stehen und es gilt Entscheidungen zu fällen, die die Materialien in Bezug zum Ganzen sehen. Es braucht eine zur
Wirklichkeit der Klangmaterialien adäquate Wirklichkeit der Komposition. Beide zusammen schaffen die Wirklichkeit des Werkes und damit die Wirklichkeit des Erlebens. In meiner Arbeit bleibe ich an diesem Ort, wo das Material seine Sinnlichkeit bewahrt. Ich nehme es nicht weg, um damit etwas zu machen. Es gibt keine kompositorische Absicht, es gibt keine Formeln, keine geistreichen Überlegungen, keine „menschlichen Tröstungssysteme“ also, die uns hier weiterhelfen.

Es kann sich aber auch nicht nur um das Präsentieren des Materials handeln. Präsentation ist „zeigen“, auf die Wirklichkeit hinweisen. Präsentieren ist geschmäcklerisch. Es ist die Angst, sich dem Material auszusetzen. Es ist auch die Angst, durch Eingriffe die Qualität des Materials zu zerstören. Sicher gibt es Sensibilität gegenüber dem Klangmaterial, aber man muss Ängstlichkeit und Sensibilität auseinanderhalten. Präsentation bedeutet, das Material von seinem ursprünglichen Ort wegnehmen und jetzt zeigen. Die Vorhaben, die zur Präsentation führen, lenken vom Wesentlichen des Materials ab. Wenn man jedoch die Gedanken an Präsentation aufgibt, fallen diese Vorhaben und Systeme in sich zusammen. Dann entfaltet das Material seine Präsenz.-
Ich präsentiere das Material nicht. Ich verwende das Material. Ich nehme viel oder wenig davon, ich wiederhole es, mache es zurecht auf die richtige Länge und Breite, um zu hören: das gibt es, und so ist es. Es gibt eine Verwendung für das Material. Verwenden betont das Machen, und durch das Machen bekommt man das Ganze. Dann kann man dem Material bei seinem Klingen zuhören. Meine Arbeitsweise ist nicht originell oder besonders. Dadurch werden auch keine besonderen Kompositionsmerkmale an den Stücken erkennbar. Eine originelle Arbeitsweise verweist immer auf ihre Originalität. Die dabei auftretenden Kompositionsmerkmale haben etwas Schwatzhaftes und wollen von ihrer Wichtigkeit und Richtigkeit überzeugen. Meine Arbeitsweise ist klar, einfach und zweckgerichtet. Sie soll die Schönheit, die vom Material ausgeht, erlebbar machen. Sie kann es ermöglichen, den Sinn und die Sinnlichkeit zu erleben und eine Komplexität der Empfindungen hervorzurufen, die vom Material und seiner Anordnung ausgeht.
In dieser Situation fragen wir uns, welchen Stellenwert Kompositionstechnik haben kann. Wir stehen der Wirklichkeit immer neu gegenüber, und es stellt sich die Frage, ob und in welcher Weise wir Erfahrungen von früher brauchen können. Es gibt hier keine bekannte Technik, die uns weiterbringt. Wenn wir eine Erfahrung von früher in diese Situation einbringen, zerstören wir die Situation und wir bringen uns um die Möglichkeit, direkt in diesem Moment und dieser Situation entsprechend zu arbeiten.
Aber wir besitzen erworbene Kenntnisse, die hier doch zugegen sind. Wissen und Fähigkeiten sind da, und wir müssen sehen, in welchem Verhältnis sie zum Gegenstand, zu der Wirklichkeit der Arbeit, dem Komponieren, stehen. Meine Aufmerksamkeit richtet sich darauf, dieses Wissen und diese Fähigkeiten verfügbar zu halten, offen zu halten für den Gegenstand, nahe und erreichbar, aber doch auf einer tieferen Ebene, so dass sie die Sache nicht berühren oder gar vereinnahmen. Manchmal kann dabei etwas entstehen, das so klingt, als ob es schon immer dagewesen wäre. Die Klänge haben aufgrund ihrer Entstehung keinen zusätzlichen Selbstbehauptungswillen und sie verzichten auf ein Rechtfertigungsvokabular. Wenn sie da sind, haben sie Eindeutigkeit und Klarheit. Es gibt ihr Erscheinen, ihre Dauer ohne Variation, ohne Entwicklung, ihre Dauer ohne Komposition. - Wenn sie nicht da sind, ist hier Stille.

4
Mir ist aufgefallen, dass es zwei Arten von Erleben gibt beim Hören von
Musik. Die eine Art wird gefördert von einer Musik, die uns veranlasst, unsere Aufmerksamkeit auf einzelne Phrasen und Teile und ihre Anordnung im Ganzen zu lenken, auf Details in der Instrumentation und in der Stimmführung zu achten und die Abfolge der einzelnen Teile sowie ihr Verhältnis zum Ganzen zu erfahren. Wir erleben Musik, ein Hauch mag durch unseren Körper ziehen. Es gibt die besonderen Momente, in denen wir erfasst werden von einer einzigartigen Berührung, die hervorgerufen wird etwa durch eine harmonische Wendung, durch ein Detail der Instrumentation, durch einen Augenblick der Ruhe oder durch einen Energieschub, der durch die Musik geht. Und dann gibt es nach dem Konzert die Erinnerung an diese glücklichen Momente, in denen wir von Musik berührt worden sind.

Eine andere Möglichkeit, Musik zu hören, geht von Stücken aus, in denen der Komponist das Entwickeln von Teilen, die wie Ursache und Wirkung zusammenhängen, verlassen hat und durch andere, ebenso komplexe Gestaltungsmöglichkeiten ersetzt hat. Oft hat diese Musik gar nicht einzelne Teile oder verschiedene Abschnitte werden einfach als Unterschied zwischen Klang und Stille wahrgenommen. Wenn diese Musik einzelne Teile hat, sind diese gerade nicht auseinander entwickelt oder kontrastierend miteinander verknüpft. Die einzelnen Teile scheinen eher durch eine unsichtbare Linie voneinander getrennt zu sein, und die Kompositionsmerkmale, die zu ihrem Vorhandensein geführt haben, bleiben unsichtbar. Da diese Teile nicht kontrastierend oder sich auseinander entwickelnd miteinander verbunden sind, bedeutet das, dass jeder Teil mit einem neuen Einfall von vorne beginnen muss und nicht dialektisch mit dem vorhergehenden verbunden ist. Es gibt dann nur die Teile, die aus dem jeweiligen Klangmaterial geschaffen wurden, und diese Teile bringen die Identität des Stückes hervor.

Bei dieser Musik haben wir nach dem Konzert oft nicht die Erinnerung an Momente besonderer Intensität. Die Situation ist nicht von Erinnerung geprägt. Es gibt zwar auch das Gefühl, dass die Musik vorbei ist, aber gleichzeitig spüren wir, dass diese Musik nicht den üblichen Eindruck hinterlassen hat. An Stelle der Erinnerung an einzelne Situationen spüren wir eher eine deutliche Manifestation des Lebens. Leben steht hier nicht im Sinne von Lebendigkeit, von Tätigkeit, von dieses tun und jenes lassen. Es ist eine reichere Erfahrung, die man hier machen kann. Es ist auch nicht einfach eine Idee. Eine Idee erscheint mir als ein zu enger Begriff in unserem Bewusstsein. Es ist die Tatsache, dass man am Leben ist, die uns in diesem Augenblick glücklich macht. Es ist das Gefühl, ich bin hier und es gibt das Leben. Dies ist eine eindeutige Empfindung, gleichzeitig ist sie sehr komplex, weil sie so umfassend ist.

Diese komplexe Empfindung geht nicht nur von den Klängen aus. Die Stille bestimmt diese Empfindung mit. Es gibt die Stille vor den Klängen, nach den Klängen, und zwischen den Klängen. Diese Stille kann sich ausdehnen, sie kann Körperlichkeit annehmen und die Klänge können diese Körperlichkeit verstärken.
Es gibt auch die Stille, die nur da ist, weil es Klänge gibt. Es ist die Stille auf einer anderen Ebene als die der Klänge und sie kommt mit den Klängen nicht in Berührung. Sie wird erahnbar, weil Klänge immer entstehen durch das Ziehen einer Grenze zwischen ihnen und allem andern. Diese Stille kann sich zeitlich nicht ausdehnen, eher leuchtet sie nach vorne und in die Tiefe nach hinten, manchmal schimmert sie durch die Klänge hindurch.
Es gibt auch die Stille in den Klängen. Dann liegt der Klang da, still aber hörbar.

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Jürg Frey
WO IST DAS STÜCK ?
Wenn wir ein Musikstück hören, sind wir mit verschiedenen Räumen konfrontiert.
Es sind dies einfach gesagt der Raum, in dem das Stück aufgeführt wird; der Raum, der durch die nähere Umgebung des Konzertortes bezeichnet ist; dann gibt es auch den kompositorisch-musikalischen Raum, der durch die Tätigkeit des Komponisten und durch die Aufführung des Stückes hergestellt wird und als weiteres kennen wir unseren Innenraum, der durch unsere Gedanken, Gefühle und Vorstellungen gebildet wird.
Bei der Aufführung eines Musikstückes sind alle diese Räume präsent und es gibt in der Regel eine klare Situation und Hirarchisierung bezüglich dieser Räume. Wenn ein Musikstück zu hören ist, das zu einem grossen Teil aus Pausen besteht, wendet sich unsere Aufmerksamkeit vermehrt Klängen und Gedanken zu, die nicht eigentlich zum Stück gehören. Ein Aussenraum erlangt eine Präsenz, die bei andern Stücken ausgesperrt bleibt, und das Stück wird durchlässig für diese verschiedenen Klänge.
Das Gefüge der vier oben beschriebenen Räume erfährt eine Umgewichtung - wir hören mehr die Klänge von aussen, wir nehmen mehr den Raum wahr, in dem die Musik gespielt wird sowie den geographischen Raum und die Umwelt, von wo wir verschiedene andere Klänge hören.
Trotzdem gilt mein Interesse als Komponist und als Hörer gerade auch bei einer Musik mit geringer klanglicher Dichte dem musikalisch-kompositorischen Raum. Dieser Raum ist schwer zu benennen, ihm gilt jedoch meine Aufmerksamkeit, und nicht primär den Nebengeräuschen, die meine Ohren zwar in Anspruch nehmen können, die aber durch ihren interessanten und unterhaltenden Charakter auch zu einer voreiligen Benennung und Einengung der Situation beitragen. Die Frage, wo das Stück sei, kann nur als Frage lebendig bleiben, wenn die Situation offen bleibt.
Ein vorschnelles Klären und neudefinieren der verschiedenen Räumlichkeiten, die leichte Integration von Nebensachen wie Umweltklänge in einen Kontext, der viel Zeit und Raum lässt, um ausgefüllt zu werden, erleichtert zwar die Situation, erschwert es jedoch, diesen Schimmer von kompositorischem Raum zu erfahren, der gerade das ist, was nicht ohnehin schon da ist. Die Klänge sind wie Markierungen in der Zeit und im Raum und geben dem Gefüge von Klingen, Hören und Komposition eine Art von Schönheit. Es ist ein Da-sein, eine leichte, jedoch deutliche Anwesenheit ohne Eindringlichkeit.
(1999)

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Jürg Frey
ARCHITEKTUR DER STILLE

Es gibt Musik, in welcher der Zeitraum des Klanges und der Zeitraum der Stille als eigene Bereiche vorkommen. Selbst wenn die Klänge oft leise sind, geht es in dieser Musik nicht um das Verstummen. Die Klänge sind klar, eindeutig und präzis. Da sie die musiksprachliche Rhetorik verlassen haben, gibt es jetzt eher Empfindungen für die Präsenz des Klanges und für die Körperlichkeit der Stille. Es gibt lange Zeiten der Anwesenheit der Klänge und lange Zeiten der Abwesenheit der Klänge. Beide zusammen bilden sie die Gegenwärtigkeit des Stückes.

Im Schweigen öffnet sich ein Raum, der sich nur öffnen kann, wenn die Präsenz der Klänge verschwindet. Die Stille, die dann erfahrbar wird, bekommt ihre Kraft von der Abwesenheit der Klänge, die wir gehört haben. So entstehen Zeiträume des Schweigens und es gibt eine Körperlichkeit des Schweigens.
Die Durchlässigkeit, die dieser Körperlichkeit eigen ist, besteht in der Unmöglichkeit, etwas über ihren Inhalt zu sagen. Dieser Durchlässigkeit können Klänge nahe kommen, erreichen können sie sie nie. Klänge sind immer eine Gestaltung, sie entstehen durch das Ziehen einer Grenze zwischen ihnen und allem andern. Es ist die Grenze, die jedem Geformten eigen ist. Stille kennt diese Grenze nicht. Stille gibt es nicht, weil sie hergestellt worden ist. Stille ist dort, wo kein Klang ist.
Es gibt Stücke, in denen die Abwesenheit von Klang zu einem wesentlichen Aspekt geworden ist. Die Stille ist nicht unbeeinflusst von den Klängen, die vorher zu hören waren. Diese Klänge ermöglichen durch ihr Aufhören die Stille und geben ihr einen Schimmer von Inhalt. Der Raum der Stille öffnet sich, und die Klänge in unserer Erinnerung werden schwächer. So entsteht dieses langsame Atmen zwischen der Zeit der Klänge und dem Raum der Stille.

Stille kann auch in den Klängen sein. Um Stille in den Klängen zu haben, muss man alles aufgeben, was diese Stille verunmöglicht. Der Klang ist dann der Klang minus die Ideen, was dieser Klang bedeuten kann und wozu er verwendet werden soll. Dieser Klang bekommt eine Andeutung der Durchlässigkeit, die sonst ganz der Stille eigen ist. Dieser Klang ist das Da-sein des Klanges. Seine Präsenz und Ausstrahlung bewirken seine Anwesenheit in der Komposition.

Um Stille zu bekommen, braucht es eine Entscheidung: Klang oder kein Klang. Um Klang zu bekommen, braucht es darüber hinaus viele weitere Entscheidungen. Diese formen den Klang und geben ihm seine Qualität, Emotionalität und seinen Inhalt. So steht Stille in ihrer umfassenden, monolithischen Anwesenheit immer einem von unendlich vielen Klängen oder Klanggebilden gegenüber. Beide prägen Zeit und Raum, in denen sie in Erscheinung treten, in existentieller Weise. Zusammen umfassen sie die ganze Komplexität des Lebens.
(1998)
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Jürg Frey
ES GIBT DAS LEBEN

Mir ist aufgefallen, dass es zwei Arten von Erleben gibt beim Hören von Musik. Die eine Art wird gefördert von einer Musik, die uns veranlasst, unsere Aufmerksamkeit auf einzelne Phrasen und Teile und ihre Anordnung im Ganzen zu lenken, auf Details in der Instrumentation und in der Stimmführung zu achten und die Abfolge der einzelnen Teile sowie ihr Verhältnis zum Ganzen zu erfahren. Wir erleben Musik, ein Hauch mag durch unseren Körper ziehen. Es gibt die besonderen Momente, in denen wir erfasst werden von einer einzigartigen Berührung, die hervorgerufen wird etwa durch eine harmonische Wendung, durch ein Detail der Instrumentation oder durch einen Augenblick der Ruhe in der Musik. Und dann gibt es nach dem Konzert die Erinnerung an diese glücklichen Momente, in denen wir von Musik berührt worden sind.

Eine andere Möglichkeit, Musik zu hören, geht von Stücken aus, in denen der Komponist das Entwickeln von Teilen, die wie Ursache und Wirkung zusammenhängen, verlassen hat und durch andere, ebenso komplexe Gestaltungsmöglichkeiten ersetzt hat. Oft hat diese Musik gar nicht einzelne Teile oder verschiedene Abschnitte werden einfach als Unterschied zwischen Klang und Stille wahrgenommen. Wenn diese Musik einzelne Teile hat, sind diese gerade nicht auseinander entwickelt oder kontrastierend miteinander verknüpft. Die einzelnen Teile scheinen eher durch eine unsichtbare Linie voneinander getrennt zu sein, und die Kompositionsmerkmale, die zu ihrem Vorhandensein geführt haben, bleiben unsichtbar. Da diese Teile nicht kontrastierend oder sich auseinander entwickelnd miteinander verbunden sind, bedeutet das, dass jeder Teil mit einem neuen Einfall von vorne beginnen muss und nicht dialektisch mit dem vorhergehenden verbunden ist. Es gibt dann nur die Teile, die aus dem jeweiligen Klangmaterial geschaffen wurden, und diese Teile bringen die Identität des Stückes hervor.

Bei dieser Musik haben wir nach dem Konzert oft nicht die Erinnerung an Momente besonderer Intensität. Die Situation ist nicht von Erinnerung geprägt. Es gibt zwar auch das Gefühl, dass die Musik vorbei ist, aber gleichzeitig spüren wir, dass diese Musik nicht den üblichen Eindruck hinterlassen hat. An Stelle der Erinnerung an einzelne Situationen spüren wir eher eine deutliche Manifestation des Lebens. Leben steht hier nicht im Sinne von Lebendigkeit, von Tätigkeit, von dieses tun und jenes lassen. Es ist eine reichere Erfahrung, die man hier machen kann. Es ist auch nicht einfach eine Idee. Eine Idee erscheint mir als ein zu enger Begriff in unserem Bewusstsein. Es ist die Tatsache, dass man am Leben ist, die uns in diesem Augenblick glücklich macht. Es ist das Gefühl, ich bin hier und es gibt das Leben. Dies ist eine eindeutige Empfindung, gleichzeitig ist sie sehr komplex, weil sie so umfassend ist.

Diese komplexe Empfindung geht nicht nur von den Klängen aus. Die Stille bestimmt diese Empfindung mit.
Es gibt die Stille vor den Klängen, nach den Klängen, und zwischen den Klängen. Diese Stille kann sich ausdehnen, sie kann Körperlichkeit annehmen und die Klänge können diese Körperlichkeit verstärken.
Es gibt auch die Stille, die nur da ist, weil es Klänge gibt. Sie kommt mit den Klängen nicht in Berührung. Sie wird erahnbar, weil Klänge immer entstehen durch das Ziehen einer Grenze zwischen ihnen und allem andern. Diese Stille kann sich zeitlich nicht ausdehnen, manchmal schimmert sie durch die Klänge hindurch.
Es gibt auch die Stille in den Klängen. Dann liegt der Klang da, still aber hörbar. (1996)