TEXTE (deutsch)
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Veränderung
des Hörens durch Grenzerfahrungen
(Aus: Eva-Maria Houben, Alte Musik mit neuen Ohren.
Schubert – Bruckner – Wagner - ...,
Saarbrücken, 2000)
Antoine
Beuger, unwritten page –
Unschärfe des Scharfen, Schärfe des Unscharfen
(Aus: Eva-Maria Houben, Alte Musik mit neuen
Ohren. Schubert – Bruckner – Wagner - ...,
Saarbrücken, 2000)
Stichnoten (2001/2002)
TEXTS (english)
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Presence –
Silence - Disappearance (2010)
Lecture at i and e festival 2010, Dublin
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Aus:
Eva-Maria Houben, Alte Musik mit neuen Ohren. Schubert
– Bruckner – Wagner- ..., Saarbrücken, 2000
Veränderung des
Hörens durch Grenzerfahrungen
"Die Kontrabaß- oder Monstrum-Ophikleiden sind sehr
wenig bekannt. In sehr großen Orchestern könnten
sie von Nutzen sein; bisher hat sie aber niemand in Paris
spielen wollen, da sie einen Aufwand von Atem erfordern,
welcher die Lungenkraft, selbst des stärksten Menschen,
überschreitet."(1)
Aufführung neuer Musik, Hören mit neuen Ohren:
Erschöpfende, anstrengende Unternehmungen voller
Atemlosigkeit. Grenzen der Ausführung und der
Wahrnehmung werden berührt und gesprengt; ein Atem ist
zu gewinnen, der das Menschenmögliche übersteigt.
Alte Musik, gehört mit neuen Ohren: Was war bislang
möglich, und was ist weiterhin möglich, weiterhin
denkbar? Wie läßt sich so auf Musik vergangener
Epochen zurückhören, daß
Wahrnehmungsmöglichkeiten entdeckt werden?
Der gemäßigte Klangbereich wird
übersprungen: Klänge sind zu laut oder zu leise,
zu hoch oder zu tief, zu lang oder zu kurz, Klangfolgen sind
zu langsam oder zu schnell. Übergänge werden mit
dem Ohr aufgespürt: Übergänge zwischen der
Bewegung rhythmischer Impulse und der Bewegung im Innern des
Klanges selbst, Entsprechungen zwischen der Motivik und der
Teiltonstruktur eines Klanges. Die Grenzen zwischen Klang
und Pulsation und zwischen Klang und Geräusch werden
durchlässig. Die Wahrnehmung des Hörers wird
irritiert und infragegestellt: Ich höre, wie ich immer
gehört habe, höre zugleich, daß ich auch
anders hören kann. Ich höre, daß ich nur
einen Ausschnitt höre. Ich höre, daß ich
anders höre als mein Nachbar.
Im Nachhall, der einen Raum schafft, in dem das Ohr dem
Verschwinden des Klanges nachspürt, ist zu hören,
was nicht mehr und noch nicht zu hören ist. Der sich in
der Weite des Raumes verflüchtigende Klang spricht eine
Aufforderung aus: Höre weiter, auch und gerade dann,
wenn nichts mehr zu hören ist! Das Weiter-Hören
führt über die Grenze des Aufhörens hinaus.
So wird ein Aufhören zum Auf-Hören, das neue
Horizonte erschließt. Die Nachhall-Stille als
Zwischenraum nach dem Letzten und vor dem Nächsten wird
zum Raum für Verwandlung.
Der Augenblick der Atemlosigkeit und Sprachlosigkeit ist ein
Augenblick der Grenzerfahrung. Die körperliche
Belastung der Ausführenden ist so groß, daß
die physischen Grenzen erreicht werden: Der Atem geht aus.
Neuer Atem öffnet neu und führt anders weiter. Ein
Ereignis sprengt die Grenzen der Vorstellung, des
Begreifens: Die Sprache geht verloren, das Wort bleibt im
Halse stecken. Im "Versuch, wieder Sprache zu gewinnen"(2),
wird der Schrecken gebannt, wird Distanz zur Katastrophe
geschaffen. Der Augenblick der Atem- und Sprachlosigkeit,
der als Augenblick höchsten Erschreckens und Staunens
den je einzelnen auf die Grenzen der eigenen
Körperlichkeit zurückwirft, sprengt zugleich
Begrenzungen.
Unter dem Gesichts-(Gehörs-)punkt von
Grenzüberschreitung und Maßlosigkeit ist das Alte
neu, das Neue alt. Die Grenzen des Körpers, des Ohrs,
des Vorstellungshorizonts werden offengelegt, um das
Potential einzuholen, das außerhalb dieser Grenzen
liegt. Grenzerfahrungen werden auf dem scheinbaren Umweg
über Denken gemacht: Und Denken wird auch gesteigertes
Fühlen, ein Fühlen mit allen Sinnen.
Wie hält man einen Klang in der Zeit, daß er
bleibt und nicht vergeht? Ein Klang ist vergänglich:
Der Streicherbogen wird neu angesetzt, der Bläseratem
geht zu Ende und wird durch den neuen Atembogen fortgesetzt.
Ein unendlicher Atem ist uns nicht gegeben. Aber durch die
Hervorkehrung der Übergänge, des notwendigen
Richtungswechsels zwischen Hin und Her und Aus und Ein wird
Fortsetzung immer wieder neu möglich. An einen
Atembogen schließt sich der nächste an; geht der
Atem des einen zu Ende, so atmet ein anderer weiter. Die
Grenzen werden Übergänge zum nächsten.
(1) Hector Berlioz,
Instrumentationslehre. Ergänzt und revidiert von
Richard Strauss. Teil 1, Leipzig o.J., S. 362. >zurück
(2) Nach einer
Ausführungsanweisung für Kundry; vgl. Richard
Wagner, Parsifal, II. Aufzug. >zurück
> nach oben
Literaturhinweise
Eva-Maria
Houben, Alte Musik mit neuen Ohren. Schubert –
Bruckner – Wagner - ..., PFAU-Verlag,
Saarbrücken, 2000
Aufführung neuer Musik, Hören mit neuen Ohren:
Erschöpfende, anstrengende Unternehmungen voller
Atemlosigkeit. Grenzen der Ausführung und der
Wahrnehmung werden berührt und gesprengt; ein Atem
ist zu gewinnen, der das Menschenmögliche
übersteigt. Alte Musik, gehört mit neuen Ohren:
Was war bislang möglich, und was ist weiterhin
möglich, weiterhin denkbar? Wie läßt sich
so auf Musik vergangener Epochen zurückhören,
daß Wahrnehmungsmöglichkeiten entdeckt werden?
Neue Musik: Musik, die immer wieder neu entsteht. Alle
Beteiligten erfahren: Ich weiß nichts, ich habe
nichts im Griff, ich höre nichts - und höre
gerade deshalb immer weiter. Immer wieder neu die
Konfrontation mit dem leeren Blatt, mit der Weite des
Raumes, in dem der Klang verhallt und zerfällt: Der
Atem stockt, die Sprache geht verloren, das Wort bleibt im
Halse stecken.
Die Wahrnehmung des Hörers wird irritiert und
infragegestellt: Ich höre, wie ich immer gehört
habe, höre zugleich, daß ich auch anders
hören kann. Ich höre, daß ich nur einen
Ausschnitt höre. Ich höre, daß ich anders
höre als mein Nachbar.
Neues Hören wird ein Hören mit allen
Kräften des Denkens und Fühlens.
Grenzüberschreitung und Maßlosigkeit sind zu
suchen. Genug ist noch lange nicht genug. Die Grenzen des
Körpers, des Ohrs, des Vorstellungshorizonts, der
Sprache werden offengelegt, um einzuholen, was
außerhalb dieser Grenzen liegt. Grenzerfahrungen
werden auf dem scheinbaren Umweg über Denken gemacht:
Und Denken wird auch gesteigertes Fühlen, ein
Fühlen mit allen Sinnen.
Komponisten, Interpreten und Hörer lernen zu fliegen:
Alte Musik, die mit neuen Ohren als neue Musik gehört
wird, kann ebenso wie zeitgenössische Musik die
Erfahrung neuer Freiheit vermitteln. Der Sprung hinaus aus
der Zeit, hinaus aus dem Konzertsaal wird jederzeit
möglich: Die Grenzen zwischen Kunst und Leben werden
durchsichtig, damit der Alltag sich - vielleicht - in eine
menschenwürdige Realität verwandelt, die
über die Kunst aufgeschlossen wird.
Leseproben:
Einleitendes
Kapitel: Veränderung des Hörens durch
Grenzerfahrungen
Antoine Beuger, unwritten
page – Unschärfe des Scharfen, Schärfe
des Unscharfen
Weitere Veröffentlichungen::
Eva-Maria Houben, Gelb: Neues Hören; Vinko Globokar,
Hans-Joachim Hespos, Adriana Hölszky, Pfau-Verlag,
Saarbrücken, 2. Aufl. 1996
> nach oben
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Aus:
Eva-Maria Houben, Alte Musik mit neuen Ohren. Schubert
– Bruckner – Wagner - ..., Saarbrücken,
2000
Antoine Beuger, unwritten
page –
Unschärfe des Scharfen, Schärfe des Unscharfen
(...)
Kompositionen von Antoine Beuger machen immer wieder auf das
Aufhören des Klanges aufmerksam. Klang schwingt ein,
damit er aufhören kann. Die Unschärfe der
Übergänge von Stille zu Klang, von Klang zu
Stille, von Klang zu Klang, von Stille zu Stille und die
Unschärfe von Beginn und Schluß werden ins
Zentrum der Wahrnehmung gerückt. Dabei wird die Musik
aufs äußerste reduziert. Innerhalb einer
großen Zeitspanne erklingen oft nur wenige Töne.
ins ungebundene
für Orgel (1997) beginnt mit einem leisen Ton
beliebiger Tonhöhe. "beginn des tons ist beginn des
stückes."(1)
So wird der Beginn selbst nicht wahrgenommen. Erst wenn das
Stück bereits begonnen hat, wird der Einschnitt des
Beginns als solcher bewußt. Der bei jedem Orgelkonzert
selbstverständliche Zwang zur Entscheidung, jetzt
gleich zu beginnen, wird hier wie mit Scheinwerfern
beleuchtet; es entsteht eine Grauzone zwischen jetzt gleich
und gerade eben. Der nächste Einschnitt erfolgt nach
zehn Minuten, weil ab jetzt die Sicherheit der Anwesenheit
des Tones verlorengeht; zehn Minuten nach Beginn kann der
Ton jederzeit aufhören: "frühestens nach 10,
spätestens nach 40 minuten, endet der ton." Die
nächste Zäsur wird gesetzt, wenn der Ton
tatsächlich aufhört, spätestens nach 40
Minuten. Das Aufhören des Tons ist ein Schnitt: Ab
jetzt ereignet sich nichts Bestimmtes mehr bis zum
Schluß des Stückes "frühestens nach 60,
spätestens nach 90 minuten". Der Schluß ist der
letzte Einschnitt. In dieser Musik ist der Ton fast nur da,
damit er nach seinem Aufhören abwesend sein kann.
Während seiner Anwesenheit verändert sich der Ton
mit der Wahrnehmung des Hörers: Der Ton wird - je nach
Registrierung - als mehr oder weniger geräuschhaft
empfunden; unterschiedliche Teiltöne sind im Laufe der
Zeit herauszuhören; der Ton verändert seine Farbe
bei Kopf- und Körperbewegungen des Hörers.
Während der Abwesenheit des Tons verändert sich
die Stille. ins
ungebundene für Flöte (1998) verunklart
die Schnittstelle zwischen den Phasen der An- und
Abwesenheit des Tons, weil der von der Flöte gespielte
Ton, der "eher tief. eher kurz. sehr leise" ist,
während seiner Anwesenheit "ganz ab und zu" klingt: So
bleibt nach seinem letzten kurzen Erklingen längere
Zeit unklar, ob es wirklich das letzte Erklingen war oder ob
der Ton noch einmal (und noch einmal etc.) auftreten wird.(2)
Die plötzliche Abwesenheit des Tons im Orgelstück
wird als blitzartiger Schnitt erlebt. Die Unschärfe
dieses scharfen Schnitts entsteht durch seine
Blitzhaftigkeit. Er ist immer schon längst vorbei,
sobald man seiner gewahr wird: Unschärfe des Scharfen.
Im Hinblick auf das Flötenstück hingegen
könnte zunächst der oberflächliche Eindruck
entstehen, daß der Ton, der eben nicht kontinuierlich,
sondern "ganz ab und zu" klingt, sich allmählich
verabschiedet; dieser Eindruck täuscht. Die Stille
zwischen den Tönen ist eine andere Stille als die
Stille nach dem letzten Ton. Der Ton ist ebenso
plötzlich nicht mehr da wie der kontinuierlich
angehaltene Orgelton: Schärfe des Unscharfen. Vom
Paradox des unscharfen, unklaren Schnitts und - auf der
anderen Seite - des scharfen, klaren Übergangs her sind
Entscheidungen zu treffen und vom Hörer
nachzuvollziehen. Das Ende des Orgelstücks ist insofern
problematisch, als der Ausführende, je nach den
räumlichen Verhältnissen, häufig unsichtbar
bleibt. Was heißt da: "frühestens nach 60,
spätestens nach 90 minuten, endet das stück .."?
Das Ende des Stückes für Flöte ist klar:
"nach frühestens 60, spätestens 90 minuten, endet
das stück." Es endet mit einem Abgang, einem Abbruch,
einem Abbau, in jedem Fall mit einem Schlußstrich, der
die unscharfe Trennschärfe vor Augen und Ohren
führt. Der Ausführende des Orgelstücks
muß sich etwas einfallen lassen, um ein deutliches
Ende zu markieren: So kann er beispielsweise ein anderes
Stück spielen oder seinen Abgang inszenieren. Es ist
Aufgabe des Interpreten, das Ende klar zu machen, damit die
Unklarheit des Klaren ans Licht kommt, damit die
Unschärfe des Schnittpunktes bewußt werden kann.
Ein drittes Stück, ins
ungebundene für Sprechstimme (1999),
ähnelt der Version für Flöte: Der menschliche
Atem kann nicht wie der Orgelatem mindestens zehn Minuten
lang ausströmen und erst dann aufhören zu
fließen. Wie im Flötenstück der Ton "ganz ab
und zu" erklingt, so erklingt diesmal "ganz ab und zu" das
Wort "und".(3)
Die Stille nach dem letzten Erklingen des Wortes
läßt wie die Stille nach dem letzten Erklingen
des Tons im Flötenstück den Hörer im
Ungewissen, ob dies das letzte Erklingen war oder nicht, ob
das Wort noch anwesend oder schon abwesend ist. Der Schnitt
ist wie im Flötenstück unscharf in der Wahrnehmung
der Hörer und zugleich scharf bezüglich seiner
Endgültigkeit und Unwiderruflichkeit. Die Konjunktion
"und" führt immer weiter. Mit jedem Erklingen und
Verklingen, auch mit dem letzten Erklingen und Verklingen,
schafft das Wort die Verbindung zum Danach. Mit dem
Orgelstück ins
ungebundene teilt das Stück für
Sprechstimme das Motto, ein Wort aus Friedrich
Hölderlins Gedicht Mnemosyne:
"Und immer / Ins Ungebundene gehet eine Sehnsucht."(4)
(...)
In den neueren Stücken für zwei Ausführende
von Antoine Beuger spielt jeder der beiden in einem eigenen,
begrenzten Zeitraum, ohne daß es zu
Überschneidungen der Zeiträume kommt. ein
ton. eher kurz. sehr leise für zwei
Ausführende (1998) zieht sehr präzise Grenzmarken
im 30-Sekunden-Takt: Einer spielt den eher kurzen, sehr
leisen Ton "einmal in der ersten hälfte jeder minute",
einer "einmal in der zweiten hälfte jeder minute".
"irgendwann" spielt einer der beiden den Ton nicht mehr, und
dann auch nicht mehr bis zum Ende, "irgendwann" spielt auch
der andere den Ton nicht mehr, ebenfalls dann nicht mehr bis
zum Ende des Stückes.(5)
Das Aufhören ist also für die beiden
Ausführenden endgültig. Das Stück soll
"mindestens 30 minuten" dauern. Wenn nach 30 Minuten keiner
der beiden aufgehört hat, geht es weiter; haben beide
bereits sehr frühzeitig aufgehört (vielleicht
schon in der ersten Viertelstunde), kann das Stück
über die Minuten-Marke hinaus weitergehen oder auch
nicht; es kann auch vorkommen, daß einer der beiden
sehr früh aufhört zu spielen, einer erst nach
Stunden, in diesem Fall kann das Stück mit dem
Aufhören des letzten Ausführenden zu Ende sein
oder auch weitergehen. Die engen Begrenzungen der auf jeden
der zwei Ausführenden zugeschnittenen Zeitraster und
der Zeitrahmen des Stückes insgesamt erweisen sich als
Markierungen eines Spielraums, in dem unterschiedliche
Entscheidungen des einzelnen möglich werden,
Entscheidungen, die sich auch auf die Nähe oder
Entfernung des einzelnen vom andern auswirken.
Auch das Stück aus
dem garten für zwei Ausführende (1998)
läßt eine besondere Beziehung der beiden
Ausführenden zueinander entstehen. Wieder spielen beide
einen Ton, "eher kurz", "sehr leise". Die Zeiträume
werden diesmal weit auseinandergefaltet, die Grenzen weit
gesteckt: "die beiden ausführenden haben abwechselnd 10
minuten zeit." "das stück dauert mehrere stunden."(6)
Diesmal aber hört keiner der beiden endgültig auf
zu spielen, wenn er den Ton einmal nicht gespielt hat. Die
beiden Ausführenden spielen in den ihnen jeweils
zugewiesenen Zeiträumen von zehn Minuten Dauer den Ton
oder auch nicht: "in ihrer jeweiligen zeit spielen sie
einmal den ton oder bleiben still." Nach mehreren Stunden
kann das Ende eintreten: Das ein- oder auch mehrmalige
Ausbleiben des Tons aber ist noch kein Zeichen für das
Ende. Auch kann nicht einer allein das Ende bestimmen, das
aber definitiv zu bestimmen ist.
An diesen Stücken für zwei Ausführende ist
vielleicht deutlicher noch als an den Solostücken zu
erkennen, worin die Stille sich von der Pause unterscheidet.
Auch die Pause kann eine veränderliche Dauer haben;
variable Dauer ist wohl weniger eine spezielle
Eigentümlichkeit der Stille. Doch: In der Stille
entsteht Raum als weiter Außen- und Innenraum. Beim
Übergang von Klang in Stille entfaltet sich der Raum
durch seine Weitung und Öffnung nach außen und
nach innen hin. In der Stille horcht das Ohr in die Weite
des geschaffenen Raumes, wirkt sich die An- und Abwesenheit
von Menschen, Dingen und Klängen im Raum aus, werden
die Beziehungen zwischen Ausführenden und Hörern
als unsichtbare Fäden im Raum sichtbar. Es scheint,
daß der Stille mehr als der Pause diese
Räumlichkeit zu eigen ist, die nicht ein Maß
abgibt, sondern als Räumlichkeit leibhaftiger
Anwesenheit und Abwesenheit, konkreter Existenz im Raum und
wirklicher Atmungen zu verstehen ist. Als eine solche
erfaßt sie auch den zeitlichen Aspekt
gegenwärtigen Aufmerkens, Achtgebens, Wachseins,
Gefordertseins.
(...)
Ein Spannungsverhältnis zwischen Setzen und
Geschehenlassen tut sich auf. So notwendig die
kompositorischen Entscheidungen und diejenigen der
Ausführenden sind, so sehr besteht der Klang "in seiner
ganzen natürlichen Differenzialität" auf
Eigenleben. In Beugers Komposition unwritten
page für Violine solo (1994) bringen
Klänge im Wechsel von Klang und Stille diese
"Differenzialität" zur Wahrnehmung, die nicht im
einzelnen vorab zu bestimmen, sondern im Augenblick der
Ausführung erst zu hören ist: wenn der Klang sich
"entfaltet". Im Unterschied zu den bisher erwähnten
Stücken wurden einzelne Parameter per Zufallsverfahren
festgelegt: die Anzahl der gleichzeitig erklingenden
Töne (einfacher Griff oder Doppelgriff), die
Färbung des Klanges durch Flageolett-Griff (bzw. der
Verzicht auf diese Färbung), die Art des Flageoletts,
die jweilige Tonhöhe bzw. die gleichzeitig zu
greifenden Tonhöhen (bei Doppelgriff), die Dynamik und
die Dauer. Mikrointervalle wurden nicht berücksichtigt.
Das Stück stellt einen Ausschnitt aus unendlich vielen
Klängen dar, einen Ausschnitt aus einem weiten Raum von
Möglichkeiten. In der Partitur ist vermerkt: "unwritten
page besteht aus 6 klingenden und 5 stillen Teilen. Die
Klänge werden in größter Ruhe gespielt. Der
Abstand zwischen zwei Einsätzen ist immer MM = 15. Die
Länge eines Klanges wird durch die Länge des
Striches bezeichnet. Es gibt kein Legato. Ein bis zum
nächsten Einsatz durchgezogener Strich bedeutet: bis
möglichst kurz vor dem nächsten Einsatz."(7)
Die "stillen Teile" zwischen den sechs Klangfolgen dauern
34, 55, 13, 55 und noch einmal 55 Sekunden. Diese Stille der
"stillen Teile" ist eine andere als die Stille zwischen zwei
Klängen innerhalb eines "klingenden Teils": Beide Arten
der Stille schaffen jedoch Kontinuität. Dort, wo die
letzte noch zum gleichförmig beibehaltenen "Abstand
zwischen zwei Einsätzen" gehörende Stille am Ende
eines "klingenden Teils" auf die Stille eines "stillen
Teils" stößt, prallen zwei verschiedene Arten von
Stille aufeinander; dort, wo der "durchgezogene Strich"
signalisiert, daß der Klang bis zum Einsatz des
nächsten gehalten wird, erfolgt doch der Schnitt beim
Zusammenprall der beiden Klänge. Zäsuren trennen
Klang und Stille, doch auch Stille und Stille, Klang und
Klang. Jeder Schnitt aber schafft Verbindung.
Die Dauer eines "stillen Teils" ist in Sekunden angegeben,
und die Dauer eines Klanges und einer entsprechenden Stille
in den "klingenden Teilen" wird am Maß
MM = 15 und an der Strichlänge gemessen. In den
"klingenden Teilen" entsteht ein Zeitraster aus Pulsationen,
in den "stillen Teilen" ist dieses Raster aufgehoben -
Wechsel von Gehen und Stehen: "Es ist eine Musik der
Einzelklänge, ein ganz langsames, plan- und
absichtsloses Dahinschreiten und immer wieder Innehalten,
Stille. Ein ganz einfacher Tanz: gehen und stehen. Zeit in
Bewegung, Zeit als Intensität."(8)
Dem Wechsel von "klingenden" und "stillen Teilen" entspricht
der Wechsel von Gehen und Stehen, der auch als ein Wechsel
von äußerer und innerer Bewegung aufgefaßt
werden kann. In der Stille wird die Bewegung fortgesetzt.
"Alle Klänge sind leise. Die Bezeichnungen
‘ppp’ - ‘f’ beziehen sich auf
Abstufungen innerhalb eines durchaus leisen Spektrums. Sie
sollten eher qualitativ verstanden werden als Grade der
Präsenz eines Klanges, etwas von
‘äußerst zerbrechlich, gerade noch
wahrnehmbar’ bis ‘leise, aber richtig
präsent’."(9)
Die klanglichen Differenzen entstehen durch die
Instabilität und Fragilität der Klänge.
Notiert sind häufig schwierige Griffe, unterschiedliche
Flageoletts in unterschiedlichen Lagen, so daß die
Klänge bei der extrem zurückgenommenen Dynamik
unterschiedlich ansprechen. Der Spieler ist aufgerufen, sich
auf die Aktionen des Klanges einzulassen. Der erste Klang im
letzten "klingenden Teil" - nach dem letzten "stillen Teil"
von 55 Sekunden Dauer - ist solch ein Klang, der ein reges
Eigenleben führt: Die beiden Strichweisen passen kaum
zueinander, zwischen dem dis2 und dem dis4 entstehen
Schwebungen. Der nächste Klang verliert durch die
Aufeinanderfolge an Vertrautheit, obgleich er für sich
allein genommen ein eher gewöhnlicher Klang ist; seine
Gewöhnlichkeit erscheint in einem anderen Licht:
(1) Antoine Beuger, ins
ungebundene für Orgel. Hier auch die
folgenden Zitate. >zurück
(2) Antoine Beuger, ins
ungebundene für Flöte. >zurück
(3) Antoine Beuger, ins
ungebundene für Sprechstimme. >zurück
(4) Es handelt sich um die
3. Fassung des Gedichts. Vgl. Friedrich Hölderlin, Sämtliche
Werke und Briefe. Erster Band. Hrsg. von
Günter Mieth, München (3. Aufl.) 1981, S.
394-395. >zurück
(5) Antoine Beuger, ein
ton. eher kurz. sehr leise für zwei
Ausführende. >zurück
(6) Antoine Beuger, aus
dem garten für zwei Ausführende. >zurück
(7) Antoine Beuger, unwritten
page, Anmerkungen. >zurück
(8) Antoine Beuger, in:
Textheft zur CD Maderna
- Beuger - von Schweinitz - Stiegler,
Edition Wandelweiser Records 9606. Clemens Merkel,
Violine. >zurück
(9) Antoine Beuger, unwritten
page, Anmerkungen. >zurück
> nach oben
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Eva-Maria Houben
Stichnoten
wirklich
still...
verschwinden
stillstand
wirklich
still...
Aus Musik kann ich unterschiedliche Arten von Pausen heraus
hören. Musikwissenschaftler ordnen verschiedenen
Pausenarten verschiedenartige Funktionen zu. Pause kann, so
ist zu hören und zu lesen, etwas bedeuten...
wie Klang.
Ich fange jetzt an, weniger die Pause zu hören, die auf
etwas verweist, etwas bedeutet, eine bestimmte Funktion
hat... – ich fange jetzt an, mehr die wirkliche Pause
zu hören, die Pause, die gefährlich wird: Musik
ist weg, Musik ist verschwunden. Da ist nichts mehr, da ist
n/Nichts.
Ich höre nichts – und höre, dass ich immer
noch etwas höre...
Dies ist wirklich so.
Plötzlich ist es wirklich still...
Etwas ist wirklich so...
Wirkliche Stille: Musik ist tatsächlich weg. Da bin ich
als Hörer allein, da sind wir alle miteinander allein.
Wenn Stille wirklich sein kann... – kann Klang
wirklich sein und sonst nichts? Kann Klang für sich
sein? Das ist die Frage.
Das ist eine Frage nach dem Hören und eine Frage nach
dem Material.
Stille und Klang bewirken immer etwas, ob sie etwas bedeuten
oder nicht.
Ó eva-maria houben
> nach oben
verschwinden
ein klang verschwindet.
solches verschwinden kann sich auf unterschiedliche weise
ereignen. klang kann verklingen, in stille eintauchen. klang
kann aber auch in viele klänge eintauchen,
aus vielen nicht mehr herauszuhören sein.
klang verschwindet, indem er aufhört: in stille
eintaucht.
klang verschwindet, indem er in viele klänge eintaucht.
was lässt sich weiter sagen?
ein klang erscheint, indem er aus stille hervortritt.
ein klang erscheint, indem er aus vielen klängen
hervortritt.
wo ist klang nach dem verschwinden?
wo ist klang vor dem erscheinen?
was lässt sich sagen?
(fast?) nichts ist da, etwas erscheint.
vieles / (fast?) alles ist da, etwas erscheint..
etwas verschwindet, (fast?) nichts ist da..
etwas verschwindet, vieles / (fast?) alles ist da..
lässt sich das sagen?
Ó eva-maria houben
> nach oben
stillstand
klang unter einer fermate, pause unter einer fermate: musik
scheint zum stillstand gekommen zu sein.
länger andauernde stille: stille scheint sich
stillstand anzunähern – und umgekehrt. -
stillstand und stille wären zu unterscheiden, nicht
aber voneinander zu trennen?
klang steht still da: es klingt, und doch ist es still. wo
ist die stille?
nicht nur ein klang, sogar ein ganzes stück kann still
stehen: still da sein.
wo ist die stille? diese frage kann ich jetzt auch so
stellen: wo ist das stück?
die musik steht, treibt uns nicht voran. alles steht still,
nichts geht weiter? ist das wirklich so? ich höre und
atme weiter beim hören, höre das stück und
mich selbst
und höre: nichts steht still.
nichts steht still, alles geht weiter?
ich höre noch einmal den einzelnen klang, der still da
ist: still steht. und höre, wie
der klang atmet. wie klang sich bewegt, vibriert, pulsiert.
dort ist der klang, und hier bin ich.
ich höre bewegung im stillstand, stillstand in der
bewegung.
ich höre jetzt noch einmal das stück und höre
fortschreitung im stillstand, stillstand
in der fortschreitung.
hier bin ich, und dort ist das stück.
ich höre da-sein.
Ó eva-maria houben
>
nach oben |