Dieter  Jordi

 

LESART, erster Teil

 

Zu den Fotopapierarbeiten von Silvia Kamm

 

 

 

 

 

Licht hören – Klang lesen

 

 

 

Die Lichtzeichnungen von Silvia Kamm-Gabathuler erinnern spontan an die Notation von Musik, an Partituren.

 

Vielleicht möchte man Regeln ersinnen, wie diese Zeichnungen als Partituren zu lesen seien.

 

Die Assoziation mit Partituren mag zunächst äusserlich sein: Linien erinnern an Notenlinien, Punkte an Notenköpfe. Aber vielleicht gibt es tieferliegende Verbindungen?

 

Verschiedene Fragen können sich dabei stellen. Verschiedene Betrachtungen können zu ganz verschiedenen Regeln führen. Die folgenden Sätze und Fragen sind zwar noch keine Spielregeln, aber sie können den Humus bilden, in dem solche wachsen können.

 

 

 

Erklingende Musik kann nur im Zeitfluss erlebt werden.

 

Hat der Zeitfluss eine Richtung, wie die Leserichtung eines Textes oder einer Partitur?

 

Welche Rolle spielen für die Hörenden die erinnerten Klänge? Haben sie eine Reihenfolge, oder sind sie statisch wie ein Bild?

 

Spielende hören zukünftige Klänge einer Partitur voraus; sie „sehen sie auf sich zukommen“.

 

Wenn die Musik in der Zeit erklingt: Fliesst sie aus der Vergangenheit in die Zukunft oder umgekehrt? Oder beides?

 

Kann man eine Musik rückwärts spielen?

 

 

 

Eine Zeichnung ist statisch und nicht an die Zeit gebunden. Das Betrachten aber kann nur im Zeitfluss vollzogen werden. Die Gestaltung des Tempos liegt dabei ganz in der Hand der Betrachtenden. Sie definieren dabei ihre Spielregeln selber und nur für sich selber.

 

Ein Bild lässt sich ganz auf einen Blick erfassen. Dieser Blick ist aber unscharf. Er vermag die Details nicht exakt zu sehen, sondern empfindet mehr die Atmosphäre. Dieser Blick führt zu einer gefühlsartigen Stimmung.

 

Fasst man hingegen Details genauer ins Auge, verschwimmt die Gesamtheit des Bildes. Dieser detailbezogene, präzise Blick muss wandern, er braucht Zeit und muss sich für bestimmte Reihenfolgen und Leserichtungen entscheiden. Dieses Schauen ist mehr gedanklich.

 

Wie können beide Spielarten verbunden werden?

 

 

 

Eine Zeichnung ist eine Spur; sie ist tektonisch. Als Gewordenes erzählt sie von  ihrer Entstehung: Linien schneiden, Licht einfallen lassen, entfernen, zupfen, teilen, wenden, drehen, schichten, ... diese Tätigkeiten sind aus den Lichtzeichnungen lesbar.

 

Und die Zeichnung entwickelt sich in genau definierten Arbeitsschritten zu Serien. Der Prozess verläuft in die Fläche, in zwei Dimensionen, er wird „quadriert“. Dieser Prozess ist gerichtet und lässt sich nicht umkehren.

 

Die einzelnen Arbeitsschritte und deren Folge gehorchen einem Konzept, dessen Spielregeln sich exakt formulieren liessen wie die Anweisungen zu den Wall Drawings von Sol LeWitt. Die Realisierung aber ist individuelle, unverwechselbare und unwiederholbare Handarbeit.

 

 

 

Lesbare Zeichen sind nicht mehr nur sich selbst. Sie nehmen Bedeutungen an für die Lesenden. Das Zeichen wird zum Symbol für Laute, Begriffe, Klänge...  

 

Die Bedeutung eines Symbols kann tradiert sein. Damit ist es an einen bestimmten traditionellen Kontext gebunden: Das Zeichen H bedeutet im lateinischen Alfabeth einen anderen Laut als im kyrillischen.

 

Die Bedeutung eines Symbols kann aber auch neu definiert werden: Spielregeln können neu erfunden und vereinbart werden.

 

Von den gewählten Spielregeln hängt wesentlich ab, wie ergiebig das Spiel ist. Aus der Sicht der Spielenden gibt es deshalb dümmere oder intelligentere Spielregeln. 

 

 

 

 

 

Winterthur, im Januar 2003                                                                         Dieter Jordi

 

 

 

Der Komponist Dieter Jordi befasst sich unter dem Titel LESART mit den Themenkreisen Musikalische Notation / musikalische Grafik / Umsetzung von Bild in Klang ...  Einige Konzepte dazu entstanden in der Auseinandersetzung mit Lichtzeichnungen von Silvia Kamm.