__________________________________________________________________________ Von der Fotografie zur Abstraktion und Farbe
Über die Künstlerin Silvia Kamm-Gabathuler
Wenn die Künstlerin Silvia Kamm-Gabathuler auf Reisen oder auf
Wanderschaft geht, tut sie dies nicht ohne ihre Fotokamera. Die ist
immer zur Hand, auch bei ihren alltäglichen Streifzügen durch
die Stadt Zürich, wo sie lebt. Es ist ein Leben zwischen
Urbanität und starkem Naturerleben. Am Anfang steht immer das
Foto. Ob es die vom Wind gezeichnete Oberfläche eines Sees, von
Gletschern abgeschliffene Steine oder die Struktur einer verwitterten
Holztüre sind – sie faszinieren die Fotografin
gleichermassen in ihrer Schönheit, als von der Natur verformte
rätselhafte Zeichen oder als Fundstücke menschlicher
Zivilisation. Ihre Motive findet und fand Kamm auf Reisen und
während ihrer Arbeitsaufenthalte in Reykjavik, Paris und New York.
Und immer wieder schweift sie durch die ihr vertraute Winterlandschaft
des Oberengadins, besucht den Lej da staz, diesen hochgelegenen See mit
seinem einmaligen Schilfgürtel. Manchmal präsentiert sich ihr
dieser Mikrokosmos tief verschneit unter glitzernden Eiskristallen,
manchmal stechen die Halme wie abstrakte Gebilde, fremdartige
Schriftzeichen, schattenlos vom weissen Untergrund ab. Bis etwa 2003
hat Kamm ausschliesslich schwarz-weiss Bilder gemacht. Davor hat sie
hin und wieder auch mit Dias gearbeitet, bezeichnenderweise meist in
Zusammenhang mit dem Thema Wasser.
Wasser fasziniert Kamm seit je. Blau in all seinen Nuancen. Wasser aber
auch als wandelbares Element in seinen verschiedenen
Aggregatszuständen. Denn letztlich geht es der Künstlerin um
mehr als die reine Oberfläche.
In ihren Kunstprojekten geht sie manchmal ungewöhnliche Wege. So
hat sie über Jahre mehrmals monatlich sämtliche Seiten der
beiden grossen Zürcher Tageszeitungen akribisch nach
„wasserworten“ durchsucht, diese notiert und schliesslich
ein riesiges, an Assoziationen reiches Archiv angelegt, aus dem sie in
späteren Werken schöpfen konnte. Wasserorte wurden in
Beziehung zu Wasserworten gesetzt – ein Wechselspiel zwischen
Bild und Text variantenreich angewandt.
Auf den Fotos Kamms finden sich abgesehen von einer über viele
Jahre entstandenen schwarz-weiss Serie zum Thema Musik keine Menschen.
Ihre Motive tendieren zur Abstraktion. Ihr fotografischer Blick, der
das Nahe in die Weite (ent-) rückt und umgekehrt, interessiert
sich nicht für das psychologische Moment oder das
realitätsgetreue Abbild im Sinne des Dokumentarischen, sondern
spielt frei mit der Mehrdeutigkeit. Bei Kamms Arbeiten manifestiert
sich ein starkes Interesse an der horizontalen sowie vertikalen
Struktur. Nur folgerichtig erscheint es da, dass die Künstlerin
über das fotografische Motiv hinaus weiter mit dem Bild
experimentiert und Eingriffe vornimmt. Es ist, als ob sie den Blick
quasi mit einem Vergrösserungsglas weiter fokussierte und
über ein spezifisches Verfahren jenen Punkt freilegte, der
für sie die eigentliche Essenz birgt. Letztlich stellt Kamm eine
höhere Ordnung her, indem sie ihre Fotos formal reduziert und in
den abstrakten Raum überführt. Hier ist ein Geist am Werk,
der sich in der Gedankenwelt der konkreten Kunst heimisch fühlt.
Das Foto ist Ausgangsmaterial, ist formale Inspiration und gibt das
künstlerische Konzept vor. „Verwandlungen“ nennt Kamm
diese Arbeiten unprätentiös. Die ersten datieren von 1989.
Was damals noch von Hand verändert wurde, geschieht heute am
Computer. Wenn die Künstlerin die Fotos früher noch
zerschnitten, Teile davon weggekratzt, andere hinzugefügt und
dadurch Leer- und neue Zwischenräume geschaffen hat, bedient sie
sich heute der digitalen Technologie. Manchmal ist es auch eine
Mischung von computergenerierten und von Hand vorgenommenen Eingriffen.
In „verwandlungen“ von 2002 hat sie Linien in den
Primärfarben blau, rot und gelb in Variationen, streng reduziert,
mit Farbstift quer über einen Aquarellgrund gezogen. Die
„verwandlungen“ von 2007 dagegen sind ausgehend von sieben
verschiedenen Schilfgras-Fotos rein digitalen Prozessen unterworfen
worden und zeigen im Endresultat flirrende ornamentale
Oberflächen. Die Laserbelichtungen hat die Künstlerin
grossformatig (189 x 28 cm) auf Aluminiumplatten aufgezogen Es sind
faszinierende abstrakte Bildwelten, schwarz-graue Drucke auf weissem
Untergrund, voller Dynamik und ein offenes Feld für eigenes
Imaginieren.
Waren bei dieser Arbeit ansatzweise noch einzelne Schilfgräser
auszumachen, verschwindet das Ursprungsbild bei den nachfolgenden
„verwandlungen“ von 2008 vollständig. Kamm ist nun
buchstäblich in die Farbenwelt des Fotos eingetaucht, hat es
aufgrund einer spezifischen Formel in einen geometrischen Raster
unterteilt und sich auf die Ebene der Farbpixel gezoomt. Vom Foto ist
nach diesem extremen Vergrösserungsprozess nur noch ein Extrakt
seiner Farben übrig geblieben. In einem zwischen Zufall und
Konzept changierenden Verfahren schliesslich hat Kamm aus
unzähligen Möglichkeiten ein Set an Farben ausgewählt
und das Bild neu zusammengesetzt. Entstanden sind durch diesen
digitalen, quasi alchemistischen Prozess aus 25 quadratischen Feldern
bestehende farbige Inkjetdrucke, in der Grösse von 150x150 mm.
Nichts mehr scheint auf das ursprüngliche Foto hinzuweisen, und
doch bleibt es in der verdichteten Farbkomposition untergründig
präsent.
In der Folge schafft Kamm neue Serien von Druckblättern (50x50
cm). Wiederum gibt sie sich präzise Arbeitsregeln vor. Ausgehend
von fünf Fotos lotet sie die dem digitalen Verfahren innewohnenden
Dimensionen weiter aus, experimentiert, verwirft und entwirft neu in
einem Feld zahlloser Kombinationsmöglichkeiten. So legt sie Raster
übereinander, verdichtet Quadrate zu Linien und Punkten und
arbeitet mit den Zwischenräumen. Einmal füllt sie die
Binnenflächen der Quadrate mit kraftvollen Farben, versetzt diese
leicht gegeneinander und produziert so fürs Auge irritierende
Unregelmässigkeiten. Ein anderes Mal koloriert sie nur die
Umrisslinien des Gitternetzes. Je nach Farbe rücken die
geometrischen Formen mehr in den Vorder- oder Hintergrund; das
Bildganze gerät in Bewegung und beginnt zu schillern. Kamm legt
– in systematischer Feinstarbeit – Schichten frei und
schafft neue Verdichtungen. Sie sucht die verborgene Essenz
aufzuspüren, und gelangt schliesslich – ausgehend vom Foto
– zum Unikat.
Bei diesen digitalen Auflösungsprozessen ist trotz des
konzeptuellen Charakters der Verwandlungen das intuitive Moment sehr
wichtig – Zufall und Gefühl spielen mit. Letztlich zeigt
sich in allen Arbeiten Kamms – ob in ihrer schwarz-weiss Phase
oder Farbenwelt – eine Suche nach möglichst grosser Klarheit
und Einfachheit. Immer aber findet sich in der massvollen Ordnung ein
Moment, das etwas von der geometrischen Strenge und Genauigkeit wieder
aufzuheben scheint.
Dieter Jordi LESART, erster Teil
Zu den Fotopapierarbeiten von Silvia Kamm
Licht hören – Klang lesen
Die Lichtzeichnungen von Silvia Kamm-Gabathuler erinnern spontan an die Notation von Musik, an Partituren.
Vielleicht möchte man Regeln ersinnen, wie diese Zeichnungen als Partituren zu lesen seien.
Die Assoziation mit Partituren mag zunächst äusserlich sein:
Linien erinnern an Notenlinien, Punkte an Notenköpfe. Aber
vielleicht gibt es tieferliegende Verbindungen?
Verschiedene Fragen können sich dabei stellen. Verschiedene
Betrachtungen können zu ganz verschiedenen Regeln führen. Die
folgenden Sätze und Fragen sind zwar noch keine Spielregeln, aber
sie können den Humus bilden, in dem solche wachsen können.
Erklingende Musik kann nur im Zeitfluss erlebt werden.
Hat der Zeitfluss eine Richtung, wie die Leserichtung eines Textes oder einer Partitur?
Welche Rolle spielen für die Hörenden die erinnerten
Klänge? Haben sie eine Reihenfolge, oder sind sie statisch wie ein
Bild?
Spielende hören zukünftige Klänge einer Partitur voraus; sie „sehen sie auf sich zukommen“.
Wenn die Musik in der Zeit erklingt: Fliesst sie aus der Vergangenheit in die Zukunft oder umgekehrt? Oder beides?
Kann man eine Musik rückwärts spielen?
Eine Zeichnung ist statisch und nicht an die Zeit gebunden. Das
Betrachten aber kann nur im Zeitfluss vollzogen werden. Die Gestaltung
des Tempos liegt dabei ganz in der Hand der Betrachtenden. Sie
definieren dabei ihre Spielregeln selber und nur für sich selber.
Ein Bild lässt sich ganz auf einen Blick erfassen. Dieser Blick
ist aber unscharf. Er vermag die Details nicht exakt zu sehen, sondern
empfindet mehr die Atmosphäre. Dieser Blick führt zu einer
gefühlsartigen Stimmung.
Fasst man hingegen Details genauer ins Auge, verschwimmt die Gesamtheit
des Bildes. Dieser detailbezogene, präzise Blick muss wandern, er
braucht Zeit und muss sich für bestimmte Reihenfolgen und
Leserichtungen entscheiden. Dieses Schauen ist mehr gedanklich.
Wie können beide Spielarten verbunden werden?
Eine Zeichnung ist eine Spur; sie ist tektonisch. Als Gewordenes
erzählt sie von ihrer Entstehung: Linien schneiden, Licht
einfallen lassen, entfernen, zupfen, teilen, wenden, drehen, schichten,
... diese Tätigkeiten sind aus den Lichtzeichnungen lesbar.
Und die Zeichnung entwickelt sich in genau definierten Arbeitsschritten
zu Serien. Der Prozess verläuft in die Fläche, in zwei
Dimensionen, er wird „quadriert“. Dieser Prozess ist
gerichtet und lässt sich nicht umkehren.
Die einzelnen Arbeitsschritte und deren Folge gehorchen einem Konzept,
dessen Spielregeln sich exakt formulieren liessen wie die Anweisungen
zu den Wall Drawings von Sol LeWitt. Die Realisierung aber ist
individuelle, unverwechselbare und unwiederholbare Handarbeit.
Lesbare Zeichen sind nicht mehr nur sich selbst. Sie nehmen Bedeutungen
an für die Lesenden. Das Zeichen wird zum Symbol für Laute,
Begriffe, Klänge...
Die Bedeutung eines Symbols kann tradiert sein. Damit ist es an einen
bestimmten traditionellen Kontext gebunden: Das Zeichen H bedeutet im
lateinischen Alfabeth einen anderen Laut als im kyrillischen.
Die Bedeutung eines Symbols kann aber auch neu definiert werden: Spielregeln können neu erfunden und vereinbart werden.
Von den gewählten Spielregeln hängt wesentlich ab, wie
ergiebig das Spiel ist. Aus der Sicht der Spielenden gibt es deshalb
dümmere oder intelligentere Spielregeln.
Winterthur, im Januar
2003
Dieter Jordi
Der Komponist Dieter Jordi befasst sich unter dem Titel LESART mit den Themenkreisen Musikalische Notation / musikalische Grafik / Umsetzung von Bild in Klang ... Einige Konzepte dazu entstanden in der Auseinandersetzung mit Lichtzeichnungen von Silvia Kamm.
bedeutet eine imaginäre oder tatsächlich ausgeführte
ruhige Bewegung (wie eine ruhige Kreisbewegung, oder einmal ruhig
ausatmen, oder ein ruhiger Bogenstrich mit einem Streicherbogen...) Er
definiert eine Zeiteinheit, die als Anzahl ruhiger Schritte oder
Pulsschläge, oder besser als in sich geschlossene Zeiteinheit (wie
eine ruhig gestrichene Bogenlänge) gemessen wird.
Kontakt:
bedeutet ein Klang (Ton, Geräusch...), der in der Mitte
eines Bogens erzeugt wird durch die Berührung oder Streifung
eines Klangkörpers (wie eine Tangente, die einen Kreis
berührt, oder ein Labium, das vom Atem, oder eine Saite, die vom
Bogen gestreift wird. Ein Kontakt bezeichnet die Mitte eines Bogens.
Ein Bogen kann, aber muss nicht als ganze Bewegung sichtbar sein.
Ein Kontakt ist das einzig hörbare an einem Bogen und erscheint immer (ungefähr) in dessen Mitte.
Massnahme 1
4 Ausführende: A1, A2, A3, A4
Alle wählen unabhängig eine ähnliche Bogendauer
(= ca. 12 – 15 ruhige Schritte oder Pulsschläge). Die
Bogendauer wird während der Phase 1 des Stückes festgehalten,
ohne sich unter einander anzugleichen.
Die Klängeder vier Kontakte sollen sich deutlich voneinander unterscheiden, jedoch ungefähr die gleiche Leisstärke haben.
Phase 1:
Alle führen im Kanon 9 Bogen aus: A1 beginnt, A2 beginnt beim
ersten Kontakt von A1, A3 beginnt beim ersten Kontakt von A2, A4
beginnt beim ersten Kontakt von A3.
Phase 1 wird von einem Tonträger aufgenommen.
Phase 2:
Die aufgenommene Phase 1 wird über Lautsprecher wiedergegeben.
Alle spielen dazu 9 Bogen, deren Dauern durch die Bogendauern einer anderen Ausführenden auf der Aufnahme bestimmt werden:
Der Bogen von A4 in Phase 2
dauert von Kontakt zu Kontakt von A1 auf der Aufnahme (der
Kontakt von A4 erschient in der Mitte zwischen zwei Kontakten von A1
auf der Aufnahme)
Der Bogen von A1 in Phase 2
dauert von Kontakt zu Kontakt von A2 auf der Aufnahme (der
Kontakt von A1 erschient in der Mitte zwischen zwei Kontakten von A2
auf der Aufnahme)
Der Bogen von A2 in Phase 2
dauert von Kontakt zu Kontakt von A3 auf der Aufnahme (der
Kontakt von A2 erschient in der Mitte zwischen zwei Kontakten von A3
auf der Aufnahme)
Der Bogen von A3 in Phase 2
dauert von Kontakt zu Kontakt von A4 auf der Aufnahme (der
Kontakt von A3 erschient in der Mitte zwischen zwei Kontakten von A4
auf der Aufnahme)
Die Einsätze in Phase 2 beginnen spätestens mit dem 3.
Kontakt der Bezugsausführenden auf dem Tonträger. ( also
werden längstens 3 Bogen nach Ende der Aufnahme noch
ausgeführt)
Zwischen Phase 1 und Phase 2 kann eine beliebig lange Pause gemacht werden.
Massnahme 2
4 Ausführende: A1, A2, A3, A4
Die Klänge der vier Kontakte sollen sich deutlich voneinander
unterscheiden, jedoch ungefähr die gleiche Leisstärke haben.
Phase 1:
A1 führt 9 Bogen aus. Bogendauer = ca. 12 – 15 ruhige Schritte oder Pulsschläge.
A2 setzt im Kanon beim 3. Kontakt von A1 ein. A2 übernimmt das
Tempo von A1, so dass die Kontakte von A2 (ungefähr) in die Mitte
zwischen 2 Kontakte von A1 zu liegen kommen.
A3 setzt im Kanon in der Mitte zwischen dem 4. Kontakt von A1 und dem
2. Kontakt von A2 ein. A3 übernimmt das Tempo, so dass die
Kontakte von A3 (ungefähr) in die Mitte zwischen einen Kontakt von
A1 und einen von A2 zu liegen kommt.
A4 setzt im Kanon beim ersten Kontakt von A3 ein. A4 übernimmt das
Tempo, so dass die Kontakte von A4 (ungefähr) in die Mitte
zwischen 2 Kontakte von A3 zu liegen kommen.
Phase 1 wird von einem Tonträger aufgenommen.
Phase 2:
Die aufgenommene Phase 1 wird über Lautsprecher wiedergegeben.
Alle spielen dazu 9 Bogen im selben Tempo.
Der 1. Bogen von A4 in Phase 2
beginnt 1/8 Bogen nach dem ersten Kontakt von A1 auf der Aufnahme
(der Kontakt von A4 erschient 1/8 Bogen vor dem zweiten Kontakt
von A1 auf der Aufnahme)
Der 1. Bogen von A1 in Phase 2
beginnt 1/8 Bogen nach dem ersten Kontakt von A2 auf der Aufnahme
(der Kontakt von A1 erschient 1/8 Bogen vor dem zweiten Kontakt
von A2 auf der Aufnahme)
Der 1. Bogen von A2 in Phase 2
beginnt 1/8 Bogen nach dem ersten Kontakt von A3 auf der Aufnahme
(der Kontakt von A2 erschient 1/8 Bogen vor dem zweiten Kontakt
von A3 auf der Aufnahme)
Der 1. Bogen von A3 in Phase 2
beginnt 1/8 Bogen nach dem ersten Kontakt von A4 auf der Aufnahme
(der Kontakt von A3 erschient 1/8 Bogen vor dem zweiten Kontakt
von A4 auf der Aufnahme)
Zwischen Phase 1 und Phase 2 kann eine beliebig lange Pause gemacht werden.