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das wetter in offenbach
Seit über 16 Jahren fahre ich jede Woche etwa fünfmal nach
Offenbach. Und wieder zurück nach Frankfurt. In den ersten Jahren
bin ich meist mit der Straßenbahn gefahren. Die ist schön
langsam und es bleibt Zeit zum Lesen. Oder zum aus dem Fenster schauen.
Leider endet die Bahnlinie 16 mittlerweile an der Stadtgrenze. Da hat
man von Offenbach noch nicht viel gesehen.
Später habe ich das Fahrrad bevorzugt. Meine erste Idee für
ein Hörstück über Offenbach war ein Mitschnitt solch
einer Fahrt. Das schien mir leidlich originell und wäre ja in
gewisser Weise auch eine Annäherung an die zu portraitierende
Stadt gewesen. Zudem hätte sich der Aufwand sehr in Grenzen
gehalten, das Honorar des Hessischen Rundfunks war schließ- lich
auch eher umschrieben.
Ehe ich es vergesse möchte ich Herrn Lux vom Deutschen
Wetterdienst danken, dem ich neben der Bekanntschaft mit
Partikelfiltern, Teilchenzählern und beieindruckenden
Großrechnern ein gefestigtes Vertrauer in die
Eintreffenswahrschein- lichkeit der Wettervorhersage verdanke.
Aber zurück zur Sache: Das Stadtportrait sollte zwischen 30 und 40
Minuten lang sein, also genau die Zeit die ich benö- tige, wenn
ich eher langsam fahre. Das langsam fahren wird für mich ohnehin
mehr und mehr zur Regel, schließlich bin ich über vierzig,
eigentlich sogar Mitte vierzig, sicher also kein junger Arzt mehr. Ein
junger Komponist ist man ja aus uner- findlichen Gründen ungleich
länger, nach Lesart mancher Veranstalter und Redakteure offenbar
bis ins Rentenalter. Dann beginnt vermutlich unmittelbar das
Spätwerk. Wie dem auch sei, eine dieser langsameren Fahrten habe
ich jedenfalls auf- gezeichnet. Das Aufnahmegerät hatte ich
hierfür außen am Rucksack befestigt, und zwar mit einer wie
ich fand sehr geschickten Bindfadenkonstruktion.
Ein besonderer Dank geht übrigens an Frau Dr. Huni sowie ihren
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bundesmonopol- verwaltung
für Branntwein. Dank Ihrer Unterstützung konnte ich
herausfinden, welche lyrische Qualität in Maschinen stek- ken, die
so prosaische Namen tragen wie Thermoregulator, Einheitsprobennehmer,
Gaschromatograph, Temperaturfühler oder Brechungsindexmesser.
Meine besondere Liebe gilt allerdings den diversen, teilweise mehr als
hundert Jahre alten Alkoholpumpen, die ich bei unserem Rundgang im
Behördengebäude kennen lernen durfte.
Der Mitschnitt der Fahrradfahrt, den ich dann abends abhörte, war
33 Minuten lang und leider nahezu vollständig unbrauchbar. Ich
hatte mich bisher nie mit Feldaufnahmen beschäftigt. Die gibt es
ja scheinbar auch gar nicht. Ich habe die Suchmaschine Forestle mit
diesem Begriff konfrontiert. Einer meiner Söhne hat mir
nahegelegt, diese Suchmaschine und nicht Google zu verwenden. Mit jeder
Suche rette ich durch die Werbeeinnahmen 0,1m2 Regenwald. Das ist doch
sehr schön. Und außerdem klingt das irgendwie
schwäbisch. Da denkt man gleich an Linsen und Spätzle und hat
ein gutes Gefühl.
Forestle geleitet mich jedenfalls auf die österreichische Seite
des Bundesforschungs- und Ausbildungszentrums für Wald,
Naturgefahren und Landschaft. Hier werde ich darüber informiert,
dass bei der Feldaufnahme entlang einer Linie Bodenson- dierungen mit
dem Schlagbohrer durchgeführt werden. Das klingt interessant und
macht sicher auch spannende Geräusche. Vielleicht bekomme ich
nochmal einen Auftrag vom Hessischen Rundfunk für ein
Hörstück. Das würde ich dann „Feldaufnahme”
nennen. Zu hören wären natürlich ausschließlich
Schlagbohrergeräusche. Dauer 30 bis 40 Minuten. Ich wäre auch
mit einem bescheidenen Honorar zufrieden.
Ich darf auf keinen Fall vergessen, mich bei den Herren Hammann sen.
und jun. sowie der gesamten Belegschaft dieser wun- derbaren
Feintäschnerei in der Ludwigstrasse 27 zu bedanken. Das Betreten
der Werksräume ist wie eine Reise in eine verwun- schene,
längst entschwundene Welt. Laut Herrn Hammann sen. ist der Klang
des Hammers auf dem Scherfstein besonders charakteristisch für das
Handwerk des Feintäschners. Die von ihm geschilderten vier bis
fünf am Scherfstein sitzenden und neben- einander auf die
Lederstücke einschlagenden Arbeiter habe ich mit Hannes Hilfe
zumindest virtuell für eine halbe Minute wie- der zum Leben
erweckt.
Der richtige Begriff für Feldaufnahme ist aber Field Recording.
Erfahrung Nummer eins: Der Wind ist der natürliche Feind der Field
Recording. Lediglich eine Stelle war brauchbar. Hier musste ich
nämlich anhalten, um das gerade verlorene Licht wieder
aufzusammeln. Das Licht hatte ich bei Penny gekauft.
Von meinem Vater habe ich die Angewohnheit übernommen, in
Supermärkten Billigangebote mitzunehmen. Das sind dann ja meistens
Dinge, die man gar nicht braucht. Oder die bereits kaputt sind wenn man
sie braucht. Das Fahrradlicht war wie alle Billigangebote sehr billig,
daher habe ich es ohne zu zögern mitgenommen. Und es war
überraschenderweise sogar funktionsfähig. Noch
überraschender war allerdings seine Fähigkeit, Batterien zu
verbrauchen. Was den geringen Preis dann schon wie- der relativiert und
natürlich eine bedenkliche Umweltsünde darstellt. Als
Bußopfer habe ich mir für heute zehn Suchbegriffe bei
Forestle vorgenommen.
Auf unerfindliche Weise hat sich auch das Robert Johnson in mein
Hörportrait der Stadt Offenbach eingeschlichen. Das allerdings
mehr als berechtigt, gehört er doch zu Offenbach wie die
Karl-Ulrich-Brücke und das Ledermuseum.
Während ich das Licht aufsammelte, zeichnete mein
Aufnahmegerät vorbeifahrende Fahrradräder, raschelndes
Herbstlaub und Plätschergeräusche vom Main auf. Das gefiel
mir sehr gut. Die beschriebene Sequenz habe ich im Hörstück
„Das Wetter in Offenbach” allerdings nicht verwendet. Sie
ereignete sich außerhalb des Offenbacher Stadtgebiets noch weit
vor der Gerbermühle. Der Main klingt aber anders in Offenbach,
auch das Blätterrascheln. Das war Erfahrung Nummer zwei.
Thomas Stiegler
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